Recht & Steuern
Urbane Gebiete: Neues Instrument der Stadtentwicklung
Text: Klaus Zimmermann | Foto (Header): © FREDOGRAF – stock.adobe.com
Mit der Einführung der Gebietskategorie „Urbanes Gebiet“ im Mai 2017 sind in städtischen Lagen eine höhere bauliche Dichte und andere Nutzungsmischungen als bisher möglich. Doch wie ist es zu dieser Gesetzesänderung gekommen und wie sind die ersten Erfahrungen damit?
Auszug aus:
QUARTIER
Ausgabe 2.2018
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Seit vielen Jahren wird darüber diskutiert, wie untergenutzte innerstädtische Areale schneller und effektiver in Wert gesetzt werden können, um dringend benötigten, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen, aber auch ergänzende Nutzungen, wie etwa Einrichtungen der Kinderbetreuung, unterbringen zu können. Solche Gebiete unterliegen häufig verschiedenen Restriktionen – vor allem, weil hier oft auch gewerbliche Nutzungen vorhanden sind, die die gewünschte städtebauliche Entwicklung hemmen.
Bisher fehlte es in der Baunutzungsverordnung (BauNVO) an einem geeigneten Rechtsinstrumentarium, um die genannten Nutzungen innerhalb eines Gebiets zu realisieren. Das „Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2014/52/EU im Städtebaurecht und zur Stärkung des neuen Zusammenlebens in der Stadt“ hat die erkannten Probleme aufgegriffen und den Kommunen durch Einführung des „Urbanen Gebiets“ die Möglichkeit eingeräumt, angestrebte Entwicklungen zielgerichteter und mit größerer Rechtssicherheit umsetzen zu können.
Bereits aus dem Titel wird die Hauptintention der Gesetzesnovelle ersichtlich, denn neben der Umsetzung verschiedener europarechtlicher Vorgaben rückte vor allen Dingen die „Stärkung des neuen Zusammenlebens in der Stadt“ in den Fokus des Baugesetzbuchs (BauGB). Was sich hinter dieser doch recht abstrakten Definition verbirgt, wird ersichtlich, wenn man sich die Entstehungsgeschichte der Gesetzesänderung vor Augen führt.
In einer Bundestagsdrucksache heißt es hierzu: „Angestrebt werden Städte und Gemeinden, die für eine soziale Gerechtigkeit und Teilhabe stehen, für ein lebendiges, tolerantes und kreatives Miteinander, für saubere Umwelt und ein intaktes Klima sowie die Verantwortung für kommende Generationen im Sinne der Nachhaltigkeit.“ [1]
Auf dieser Grundlage wurde auch die Einführung einer neuen Baugebietsart beschlossen, die von nun an gleichberechtigt neben den bereits bekannten Gebietsarten, z. B. dem reinen oder allgemeinen Wohngebiet, dem Mischgebiet, dem Kerngebiet oder dem Gewerbegebiet, steht. Es handelt sich um das sogenannte „Urbane Gebiet“ (MU). Durch das Einfügen des § 6a in die BauNVO wurde die Gebietsart rechtlich verankert.
Unterschied zu anderen Gebietsarten
Systematisch ist das Urbane Gebiet zwischen dem Mischgebiet (§ 6 BauNVO) und dem Kerngebiet (§ 7 BauNVO) einzuordnen. Dem Wortlaut des § 6a Abs. 1 BauNVO folgend, dient das Urbane Gebiet „dem Wohnen sowie der Unterbringung von Gewerbebetrieben und sozialen, kulturellen und anderen Einrichtungen, die die Wohnnutzung nicht wesentlich stören. Die Nutzungsmischung muss nicht gleichgewichtig sein.“
Das Urbane Gebiet soll hierbei die Nachverdichtung fördern und die Flächeninanspruchnahme für eine Neubebauung reduzieren. Es kommt daher z. B. vorrangig für innerstädtische Flächen, wie etwa ehemalige Gewerbeflächen oder Bahnbrachen in Betracht. In städtischen Außenbereichen ist seine Anwendung eher nicht zu erwarten.
Vom Mischgebiet (MI) unterscheidet sich das Urbane Gebiet besonders dadurch, dass eine bestimmte Nutzungsmischung in einem zumindest annähernd gleichen Verhältnis zwischen Wohnnutzung und anderen Nutzungen nicht vorliegen muss. Somit ist in einem MU, im Gegensatz zum MI, auch ein deutlich überwiegender Anteil an Wohnnutzung zulässig. Außerdem können hier auch höhere Grund- und Geschossflächenzahlen (GRZ und GFZ) festgesetzt werden als in einem Mischgebiet. So beträgt z. B. die nach § 17 BauNVO zulässige GRZ im MU 0,8, im MI dagegen nur 0,6. Die GFZ liegt im MU mit bis zu 3,0 gegenüber 1,2 im MI sogar um das 2,5-Fache höher.
Der Katalog der zulässigen Nutzungen im Urbanen Gebiet ähnelt stark dem des Mischgebiets, eine Abgrenzung der beiden Gebietsarten ist daher schwierig. Nach § 6 BauNVO dienen Mischgebiete dem Wohnen und der Unterbringung von Gewerbebetrieben, die das Wohnen nicht wesentlich stören. Die BauNVO selbst gibt zwar kein festes Mischungsverhältnis vor, dieses lässt sich aber aus der einschlägigen Rechtsprechung ableiten. So muss zwar keine völlig gleichgewichtige Mischung von Wohnen und anderen Nutzungen, wie etwa Geschäfts- und Bürogebäuden, Einzelhandelsbetrieben oder Schank- und Speisewirtschaften vorliegen, das eindeutige Überwiegen einer bestimmten Nutzungsart läuft dem Gedanken der Nutzungsmischung im MI aber entgegen.
Der Verzicht auf ein bestimmtes Nutzungsverhältnis ist damit ein klares Unterscheidungsmerkmal, das dem MU in der praktischen Anwendung zu einer deutlich größeren Flexibilität verhilft. Dies fördert den Gedanken einer kleinteilig nutzungsgemischten Struktur und schafft gleichzeitig die Voraussetzungen für den Bau dringend benötigten Wohnraums im Innenstadtbereich, da der Wohnanteil im MU auch gegenüber anderen Nutzungen erheblich überwiegen darf.
Vom Kerngebiet (MK) nach § 7 BauNVO unterscheidet sich das MU vor allem dadurch, dass Kerngebiete vorwiegend der Unterbringung von Handelsbetrieben sowie zentraler Einrichtungen der Wirtschaft, der Verwaltung und der Kultur dienen. Die Wohnnutzung ist hier deutlich untergeordnet und nach § 7 Abs. 2 Nrn. 6 und 7 BauNVO auf „Wohnungen für Aufsichts- und Bereitschaftspersonen sowie für Betriebsinhaber und Betriebsleiter“ und „sonstige Wohnungen nach Maßgabe von Festsetzungen des Bebauungsplans“ beschränkt.
Neuregelung von Immissionsrichtwerten
Vor der Einführung wurde lange und heftig darüber diskutiert, ob und inwieweit für Urbane Gebiete eine Lockerung der Bestimmungen im Hinblick auf den Lärmschutz umgesetzt werden soll. Hintergrund waren die Probleme, die in vielen innerstädtischen Bereichen immer offensichtlicher zutage treten, indem z. B. durch die nächtliche Anlieferung von Supermärkten die Immissionsrichtwerte (IRW) nach der Technischen Anleitung zum Schutz gegen Lärm (TA Lärm), die deutlich stringenter sind als beispielsweise für Verkehrslärm, überschritten werden. Die gewünschte Nutzungsmischung, bei der gerade auch solche lärmemittierenden Nutzungen innerhalb eines Urbanen Gebiets untergebracht werden sollen, hätte eine Lockerung des für die lauteste Nachtstunde geltenden IRW von 45 dB(A), wie er z. B. in Mischaber auch in Kerngebieten gilt, nahegelegt.
Da bis dato keine Immissionsrichtwerte für ein Urbanes Gebiet existierten, wurde schließlich parallel zur Einführung der Gebietsart auch die TA Lärm ergänzt. Mit der Neufassung hat man sich aber gegen die Erhöhung des IRW in der Nacht, wie sie von vielen Praktikern gefordert wurde, entschieden und stattdessen durch die Ergänzung von Nr. 6.1 S. 1 der TA Lärm um den neuen Buchstaben c) in Urbanen Gebieten die gewerbliche Lärmbelastung durch anlagenbezogene Geräusche lediglich am Tag (6 bis 22 Uhr) auf 63 dB(A) angehoben. Für die Nacht (22 bis 6 Uhr) hingegen bleibt es beim Richtwert von 45 dB(A), der für die lauteste Nachtstunde einzuhalten ist.
Die schutzbedürftige Nutzung „Wohnen“ muss daher zwar tagsüber eine erhöhte Lärmbelastung hinnehmen. Das Schutzniveau im Nachtzeitraum wurde hingegen nicht verringert, um den Schutz der Nachtruhe nicht zu gefährden. Dies wurde vielfach kritisiert, weil schalltechnisch „kritische“ Situationen aufgrund der Tatsache, dass sich der IRW in der Nacht stets auf die lauteste, volle Nachtstunde bezieht, häufiger nachts, als tagsüber auftreten. In der Praxis entschärft die Ergänzung der TA Lärm daher Konfliktsituationen in Gemengelagen kaum.
In anderen Verordnungen und Regelwerken, beispielsweise der 16. BImSchV, der sog. „Verkehrslärmschutzverordnung“ oder der DIN 18005 „Schallschutz im Städtebau“, hat die neue Gebietsart noch keinen Niederschlag gefunden. In entsprechenden Gutachten wird daher in Bezug auf den Verkehrslärm in der Regel noch immer vom Schutzniveau eines Mischgebietes ausgegangen. Allerdings gilt für die städtebauliche Planung hinsichtlich des Verkehrslärms in der Nacht ein um 5 dB(A) höherer Orientierungswert als beispielsweise für Gewerbelärm, sodass diesbezüglich lediglich 50 dB(A) einzuhalten sind. Die Verkehrslärmschutzverordnung gilt nur für den Bau oder die wesentliche Änderung von Straßen und Schienenverkehrswegen. Ihre Immissionsgrenzwerte liegen für Kern- und Mischgebiete gleichermaßen bei 64 dB(A) am Tag und 54 dB(A) in der Nacht. Dieser Wert wird derzeit auch für Urbane Gebiete zugrunde gelegt.
Anwendungsfälle für Urbane Gebiete
Ehemalige Bahnflächen, die zwischenzeitlich brach gefallen sind, eignen sich gut für die Überplanung mit dem neuen Rechtsinstrument, da sie häufig in der Nähe von Stadt- oder Stadtteilzentren liegen und vielfach sogar noch einzelne der ehemaligen Funktionen, wie z. B. Haltepunkte für den schienengebundenen Nahverkehr, erhalten geblieben sind. Dies ist eine mehr als gute Grundvoraussetzung für die Entwicklung eines urbanen, nutzungsgemischten Stadtquartiers.
Für kleinere Gemeinden im ländlichen Bereich wird das Urbane Gebiet hingegen aller Voraussicht nach weniger Bedeutung erlangen. Gleiches gilt für Neubaugebiete „auf der grünen Wiese“, selbst wenn sie in größeren Städten entstehen. Hier wird eher eine klare Trennung zwischen den verschiedenen Nutzungstypen favorisiert, so dass sich meist eine Gliederung in Wohngebiete und bestimmte Sondergebiete, z. B. „Sondergebiet großflächiger Einzelhandel“, ergeben dürfte. Dass hier auch Gewerbeflächen innerhalb der Neubauquartiere entstehen, scheint wohl die Ausnahme sein.
In gewachsenen städtebaulichen Strukturen hat sich über die Jahre meist eine mehr oder weniger starke Nutzungsmischung nach dem Zufallsprinzip ergeben. Bei der Neuplanung eines Urbanen Gebiets hingegen sollte man sich frühzeitig auch Gedanken darüber machen, ob es sinnvoll oder gar notwendig ist, potenzielle Konflikte durch eine geschickte Nutzungszuordnung im Sinne der Gliederung des Stadtquartiers von vornherein zu verhindern. Dies läuft zwar ein Stück weit dem Gedanken der Nutzungsmischung entgegen und darf nicht dazu führen, dass das Urbane Gebiet in verschiedene andere Gebietstypen zerfällt und damit seinen Charakter verliert. Das wäre auch im rechtlichen Sinne möglicherweise als „Etikettenschwindel“ zu werten. Allerdings bieten das BauGB und die BauNVO durchaus rechtskonforme Steuerungsmöglichkeiten.
Wie die Grafik auf dieser Seite verdeutlicht, erlaubt § 6a Abs. 4 BauNVO z. B. über die Differenzierungsmöglichkeiten des § 1 Abs. 5 und 9 BauGB hinausgehende, spezielle Nutzungsgliederungen zur Gestaltung eines Urbanen Gebiets.
Insbesondere kann in einem Bebauungsplan für ein Urbanes Gebiet festgesetzt werden, dass
- in Gebäuden im Erdgeschoss an der Straßenseite eine Wohnnutzung nicht oder nur ausnahmsweise zulässig ist,
- oberhalb eines im Bebauungsplan bestimmten Geschosses nur Wohnungen zulässig sind,
- ein im Bebauungsplan bestimmter Anteil der zulässigen Geschossfläche oder eine im Bebauungsplan bestimmte Größe der Geschossfläche für Wohnungen zu verwenden ist oder
- ein im Bebauungsplan bestimmter Anteil der zulässigen Geschossfläche oder eine bestimmte Größe der Geschossfläche für gewerbliche Nutzungen zu verwenden ist.
Mithilfe dieser speziellen Differenzierungsmöglichkeiten kann eine einzelfallbezogene, kleinteilige Nutzungsmischung verwirklicht werden, die Störungen der einen durch die andere Nutzung deutlich reduziert, wenn auch möglicherweise nicht vollständig ausschließt.
Aufgrund der Tatsache, dass der neue Gebietstyp erst seit Kurzem existiert und der im Allgemeinen recht langen Planungszeiträume lassen sich bis heute noch kaum „fertig gebaute Beispiele“ Urbaner Gebiete finden.
Erste Planungsansätze zeigen aber, dass die vorgenannten Anwendungsbereiche in der Praxis wohl den Schwerpunkt für die Umsetzung des neuen Rechtsinstrumentariums bilden. So wird z. B. gerade in einer Großstadt am Rhein das Gelände eines ehemaligen Güterbahnhofs, das seit einigen Jahren nicht mehr genutzt wird, überplant. Hier soll in Ergänzung vorhandener städtebaulicher Strukturen und zum Zwecke der nachhaltigen Aufwertung des gesamten Stadtquartiers ein hochwertiges, gemischt genutztes Gebiet entstehen, für das der neue Gebietstyp MU wie geschaffen ist. Geplant sind u. a. rund 200 neue Wohnungen, von denen nach den Regelungen eines städtebaulichen Vertrags zwischen der Stadt und dem Investor 20 % mit Mitteln der sozialen Wohnraumförderung bezuschusst werden sollen.
Problematisch ist die unmittelbare Nähe zu den Gleisanlagen einer stark befahrenen Bahnstrecke, durch die das Gebiet tagsüber, insbesondere aber auch in der Nacht, extrem hohen Lärmbelastungen ausgesetzt ist. Um dennoch die Anforderungen an gesunde Wohn- und Arbeitsverhältnisse sicherstellen zu können, wurde eine städtebauliche Struktur entwickelt, die zur Bahn hin einen nahezu geschlossenen Gebäuderiegel aufweist, der sich dann im dahinterliegenden Bereich in einer kammartigen Gebäudestruktur auflöst (siehe Grafik links). Im Bebauungsplan werden u. a. Festsetzungen zur Grundrissorientierung sowie zum Ausschluss von Fenstern von Aufenthaltsräumen zur Bahnlinie hin getroffen.
Wie die Grafik verdeutlicht, überwiegt über alle Geschosse betrachtet der Wohnanteil (lila) eindeutig. Im Bebauungsplan wird trotzdem in ausgewählten Bereichen im Erdgeschoss eine andere Nutzung, wie Einzelhandel, Gewerbe oder Dienstleistungen, vorgegeben (hellgrau), um diese an der Haupterschließungsstraße zu konzentrieren.
Im Blockinneren entsteht durch die Lärmschutzbebauung ein ruhiger Grün- und Aufenthaltsbereich. Die notwendigen Stellplätze werden überwiegend in einer Tiefgarage untergebracht, sodass dieser völlig verkehrsfrei gestaltet werden kann. Das neue Stadtquartier grenzt unmittelbar an die vorhandenen baulichen Strukturen an und schützt diese zusätzlich vor Lärm.
So wird aus einer Bahnbrache künftig Wohnraum für mehrere hundert Menschen, die im Gebiet zudem Spielplätze, eine Kindertagesstätte sowie verschiedene sonstige Einrichtungen einschließlich Arbeitsplätzen in kleineren Gewerbebetrieben vorfinden.
Quellen/Literatur
[1] Vgl. BT-Drucksache 18/10942, S. 26 ff.
Der Autor
Dipl.-Ing. Klaus Zimmermann
Klaus Zimmermann ist Dipl.-Ing. der Raum- und Umweltplanung, Stadtplaner, Beratender Ingenieur sowie Inhaber und Gründer des Planungsbüros ISU Bitburg. Außerdem ist er seit vielen Jahren als Referent für Städtebau beim Bundesverband für Wohnen und Stadtentwicklung e. V. (vhw) tätig.
www.i-s-u.de