Neuer Wohn-Baustein im Märkischen Viertel in Berlin: Wohnen statt Parken

Neuer Wohn-Baustein im Märkischen Viertel in Berlin: Wohnen statt Parken

Realisierte Objekte

Neuer Wohn-Baustein im Märkischen Viertel in Berlin: Wohnen statt Parken

Text: Anja Hoffmann | Foto (Header): © Dawin Meckel

Bestehende Siedlungen weiterzuentwickeln, ist ein zentraler Baustein der Berliner Stadtentwicklung. Angesichts des angespannten Wohnungsmarktes soll durch die bauliche Ergänzung bezahlbarer Wohnraum und gleichzeitig ein Mehrwert für den Bestand geschaffen werden. In diesem Kontext entstand für die kommunale Berliner Wohnungsbaugesellschaft GESOBAU AG ein neues Wohnhaus im Märkischen Viertel in Berlin.

Auszug aus:

Die bekannte Großwohnsiedlung – von renommierten Architekten zwischen 1963 bis 1974 entworfen und realisiert – war mit ihren insgesamt rund 17.000 Wohnungen für ca. 50.000 Bewohner geplant. Das Generalplanungsteam aus DMSW Architekten und Gössler Kinz Kerber Schippmann Architekten wurde beauftragt, einen neuen Baustein am nördlichen Rand des Märkischen Viertels zu entwickeln.

Auf dem gut 3.000 m² großen Grundstück in der Finsterwalder Straße befand sich ein viergeschossiges Parkhaus, das für das Bauvorhaben abgerissen wurde. Da die Grundfläche der ehemaligen Garage größer war als die des neuen Wohngebäudes, konnten mit dieser Maßnahme gleichzeitig Flächen entsiegelt werden. Für das Grundstück lag kein Bebauungsplan vor. Die Zulässigkeit des Bauvorhabens richtete sich nach § 34 BauGB, wonach sich Art und Maß der baulichen Nutzung in die nähere Umgebung einfügen müssen.

Der achtgeschossige, quaderförmige Baukörper nimmt in seiner Formensprache Elemente des Märkischen Viertels auf. Als plastischer Solitär tritt er in den Dialog mit dem skulpturalen Städtebau der Umgebung. Der richtungslose Baukörper besitzt keine klassische Vorder- und Rückseite, er hat vier gleichwertige Fassaden sowie zwei Eingänge in ein durchgestecktes Foyer. Ein markantes Merkmal des Solitärs ist seine „gezackte“ Fassade, die sich auch im Grundriss widerspiegelt.

Die Ein-, Zwei- und Dreizimmerwohnungen verfügen über Wohnflächen zwischen 38 und 70 m². In den Wohnungen entstehen durch die gezackten, nicht orthogonal zu den Grundrissen verlaufenden Fassaden räumlich spannende Situationen. Zur Ausstattung gehört für alle Mietwohnungen ein Freisitz als Balkon. Aus den Wohnungen und von den Balkonen sind vielfältige Blickbeziehungen ins Märkische Viertel und darüber hinaus möglich.

Die Hälfte der Wohnungen wird zu einem geförderten Mietpreis ab 6,50 €/m² netto kalt angeboten. Von den freifinanzierten Wohnungen werden wiederum 21 Wohnungen zu einer einkommensgestaffelten Miete angeboten. Alle Wohnungen sind schwellenlos erreichbar, davon entsprechen 48 Wohnungen den planerischen Vorgaben des barrierefreien Wohnungsbaus. Ein bodengleicher Zugang auf den Balkon ist durch den Einsatz von Flachschwellen in allen Wohnungen möglich. Jede Wohnung verfügt über ein Bad mit bodengleicher Dusche oder Badewanne. Die Küchen sind jeweils als Kochnische ausgebildet und bilden einen Raumverbund mit dem Wohnbereich.

In der Nutzung führen die kompakte Bauweise und die effiziente Erschließung zu niedrigen Energiekosten. Zur Einhaltung des sommerlichen Wärmeschutzes ist eine Sonnenschutzverglasung verbaut. In den Obergeschossen wurde ein Wärmedämm-Verbundsystem (WDVS) mit einem mineralischen, dickschichtigen und hydrophilen Edelputz aufgebracht. Farblich orientiert sich der Putz an der umgebenden Bebauung des Märkischen Viertels.

Der Gebäudesockel öffnet sich mit einer großzügigen Geste zur urbanen Landschaft. Mit einer langen Bank lädt das Foyer zum Austausch zwischen den Bewohnern ein. Versorgungs- und Abstellräume, wie Kellerersatzflächen, Fahrradräume sowie ein Raum für Kinderwagen, Rollatoren und Rollstühle, sind im Erdgeschoss links und rechts des Foyers angeordnet. Auf eine Unterkellerung wurde auch wegen der ungünstigen Bodenverhältnisse verzichtet.

U-Profil-Blech für Sockel und Balkone

Das gefaltete U-Profil-Blech, das an der Sockelfassade sowie an den Balkonen Verwendung findet, unterstreicht die Gebäudekubatur. Um ein einheitliches Erscheinungsbild zu erzielen, wurde das gesamte Sockelgeschoss mit diesem Blech verkleidet. Notwendige Fenster, wie z. B. für Abstellräume, befinden sich hinter gelochten Blechtafeln. Die Bleche sind robust, langlebig, recyclingfähig und bei Beschädigung leicht austauschbar.

Bei der Gestaltung der Brüstungselemente der Balkone wurde das gelochte Blech des Sockels aufgegriffen. Die Lochung verleiht dem Blech einen leichten Charakter, fast wie bei einem textilen Vorhang. Vom Balkon aus gesehen, wirkt das Blech durch die Lochung transparent, von außen ist es jedoch blickdicht.

1 | Grundriss Regelgeschoss
ABBILDUNG: DMSW

2 | Das gesamte Sockelgeschoss wurde mit dem U-Profil-Blech verkleidet, und die Faltung der Gebäudefassade setzt sich im Eingangsbereich fort.
FOTO: DAWIN MECKEL

Treppenanlage mit natürlicher Belichtung

Die sowohl identitätsstiftende wie auch effiziente Erschließung besteht aus einer Treppenskulptur mit sich verschränkenden Treppenläufen. Diese führt in die Obergeschosse, wo die Wohnungen allseitig um das zentrale Treppenhaus angeordnet sind. Die Treppenläufe sind geschossweise gegeneinander versetzt, sodass eine lebendige Raum­wirkung entsteht. Mit dem Konzept eines gemeinschaftlichen Raumerlebnisses konnte die Bauherrin, die zunächst aus Erfahrungen im Bestand kritisch gegenüber Vielspännern war, vom Zwölfspänner überzeugt werden.

Unterstrichen wird die Skulptur durch massive Stahlbrüstungen, die den Treppenläufen folgen. Das äußere Konzept der „gezackten“ Fassade spiegelt sich in der Treppenskulptur wider. Die Treppenläufe sind als Betonfertigteile ohne Belag ausgebildet. Auch die Decken im Treppenhaus sowie der Aufzugsschacht sind betonsichtig. Im übrigen Treppenhaus wurde bunter Betonwerkstein in einer Art römischem Verband verlegt, wodurch der Belag einem Terrazzo ähnelt.

Ergänzt wird das Treppenhaus durch einen rollstuhlgerechten Aufzug, der alle Wohnungen barrierefrei erschließt. Neben dem Aufzugsschacht unterstreichen zwei weitere Lufträume den skulpturalen Charakter der Treppenanlage. Die großzügige Gestaltung des zentralen Treppenhauses macht diesen zu einem Treffpunkt für die Hausgemeinschaft.

Über das Treppenhaus führt der erste Rettungsweg direkt ins Freie. Da es sich um einen innen liegenden Treppenraum handelt, wurde dieser mit trockener Steigleitung und Notbeleuchtung ausgeführt. Die notwendige Entrauchung erfolgt über das Dach. Hier sorgen unterschiedlich große und unregelmäßig angeordnete Oberlichter für natürliche Belichtung. Das Retentionsdach mit extensiver Begrünung und durchwurzelbarer Substratschicht dient der Regenwasserrückhaltung, indem es Niederschlagswasser speichert und über einen längeren Zeitraum dosiert abgibt.

3 | Die Treppenskulptur ist von oben natürlich belichtet.
FOTO: DAWIN MECKEL

4 | Schnitt Treppenhaus
ABBILDUNG: DMSW

Langlebige Materialien

Grundsätzlich wurde bei der Auswahl der Materialien großer Wert auf Langlebigkeit und damit Nachhaltigkeit gelegt: Der Betonwerkstein im Treppenhaus ist sehr robust, und in den Wohnungen wurden bei den Türen Stahlumfassungszargen statt Zargen aus Holzwerkstoff verwendet. Auch das massive Stahlgeländer im Treppenhaus ist weniger reparaturanfällig als ein Geländer aus einzelnen Füllstäben.

Freiflächen

Der Außenbereich ist mit differenzierten Grün- und Spielflächen gestaltet. Es wurden zahlreiche wegbegleitende Baum- und Strauchpflanzungen sowie Sandspielflächen mit Holzwipptieren und einer Hängematte realisiert. In die Außenanlagen integriert sind auch zahlreiche Abstellmöglichkeiten für Fahrräder sowie eine gestaltete Einhausung für die Abfallbehälter. Diese orientiert sich mit ihrer vertikalen Lamellenbekleidung optisch am Sockelblech des Wohngebäudes und fügt sich farblich gut in das Gesamtensemble ein.

Die Aufstellflächen für die Feuerwehr sind in einer Mischung aus Betonbelag mit Besenstrichoberfläche und Rasengittersteinen ausgeführt und umlaufend um das Gebäude angeordnet. Dadurch wird die Wirkung des Solitärs, der weder eine Vorder- noch eine Rückseite hat, noch verstärkt. Der Betonbelag wird als multikodierte Fläche für Skaten, Bobbycar-Fahren und gemeinschaftlichen Aufenthalt verstanden.

Potenziale von Großwohnsiedlungen

Die Nachverdichtung an der Finsterwalder Straße sowie eine weitere städtebauliche Entwicklung des Märkischen Viertels durch DMSW Architekten zeigen, welche Potenziale in den oft geschmähten Großwohnsiedlungen stecken: Am etwas südlich gelegenen Senftenberger Ring konnte im Jahr 2021 eine neue Wohnanlage mit insgesamt 388 Wohnungen, darunter auch Seniorenwohnungen sowie eine Kindertagesstätte für 120 Kinder realisiert werden – das Theodor Quartier. Das Projekt wurde als städtebauliche Figur aus sechs Solitären geplant, die die Campus-Struktur des inneren Märkischen Viertels aufgreift. Als „Prototyp“ für die Neubauten am Senftenberger Ring diente das Wohngebäude in der Finsterwalder Straße. Beide Projekte zeigen, wie qualitativ hochwertiger Wohnraum zu erschwinglichen Mietpreisen erstellt werden kann.

Projektdetails


Adresse
Finsterwalder Straße 102 A,
13435 Berlin-Reinickendorf,
Ortsteil Märkisches Viertel
Leistungen
Generalplanung und LP 1–9
Objektplanung Hochbau
Bauherrin
GESOBAU AG
Fertigstellung
2022
Architektur
ARGE DMSW Architekten/Gössler
Kinz Kerber Schippmann Architekten
Flächen
6.787 m² BGF/4.512 m² WFL
Außenanlagen
bbz landschaftsarchitekten

Über DMSW Architekten
Wir sind Profis für das Wohnen in der Stadt. Unser Ziel sind sozial, ökologisch und wirtschaftlich nachhaltige Gebäude. Seit 2004 planen und realisieren wir Projekte mit unterschiedlichen Partnern aus der Immobilienwirtschaft, mit Baugruppen und öffentlichen Wohnungsunternehmen.
www.dmsw.de

Über Gössler Kinz Kerber Schippmann Architekten
Ein Bauwerk sollte eine Bereicherung der Welt darstellen – unter diesem Leitsatz entwickelt Gössler Kinz Kerber Schippmann Architekten seit 1987 Architekturen für Bildung, Wohnen, Verkehr und Gewerbe. Neben zahlreichen Neubauten bildet das Bauen im Bestand einen Schwerpunkt, dem wir uns in Verantwortung für die nachhaltige Entwicklung der gebauten Umwelt verstärkt widmen. 90 Mitarbeitende an zwei Standorten arbeiten mit Leidenschaft und Expertise an unseren Projekten.
www.gkks.de

Die Autorin


Anja Hoffmann
propr_architektur pr

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