Realisierte Objekte
Energetische Sanierung von alter Fabrik: Genossenschaft erneuerbar
Text: Achim Pilz | Foto (Header): © ACHIM PILZ
Eigener Strom, erneuerbare Energieträger, ein Nahwärmenetz und rahmende Maßnahmen wie ein Mobilitätskonzept machen das Uferwerk in Werder (Havel) zu einer vorbildlichen Sanierung. Für 170 Erwachsene und Kinder nutzte eine Genossenschaft eine Saftfabrik von 1870 ökologisch um und entwickelt sie energetisch weiter.
Auszug aus:
QUARTIER
Ausgabe 5.2024
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Die Genossenschaft Uferwerk ist vorbildlich bei der Umsetzung aller Nachhaltigkeitskriterien. Die Bau- und Wohngenossenschaft wurde 2011 gegründete, um „Wohn- und Lebensraum für generationenübergreifende, sozial gemischte, nachbarschaftliche Wohnformen in möglichst ökologischen und energieeffizienten Gebäuden zu schaffen“. 2023 wurde ihre jüngste ökologisch und energetisch überzeugende Umnutzung mit dem Erich-Mendelsohn- Preis für Newcomer ausgezeichnet. 2014 hatte sie mit der Sanierung begonnen. Damals übernahm sie das Gelände einer alten Saftfabrik in der Luisenstr. 17 in Werder an der Havel, in der Nähe Potsdams, und die teilweise stark heruntergekommenen Gebäude. Das Grundstück liegt, landschaftlich sehr schön, direkt am großen, von der Havel durchflossenen Zernsee. Das Hauptgebäude der alten Fabrik von 1870 hat einen Turm, in dem früher die Schläuche getrocknet wurden, und steht unter Denkmalschutz. Der Kaufpreis betrug 3 Mio. Euro, wofür der alte Eigentümer auch den kontaminierten Boden unter der alten Lackierhalle am See ersetzte. Dort ist heute ein Sandplatz auf dem gespielt und gefeiert wird.
Die Architektinnen Irene Mohr und Karin Winterer sanierten bis 2017 denkmalgerecht und bauten die Energieversorgung komplett auf erneuerbar um. Neubauten erstellten sie, soweit es konstruktiv und finanziell ging, aus nachwachsenden Rohstoffen. Das Vorgehen verwirklicht das Leitbild des Urban Mining, der Stadt als Materialdepot, das ständig umgebaut werden kann. Insgesamt entstanden im Uferwerk 60 Wohnungen. 2023 wurde noch einmal ein weiterer Baukörper umgenutzt. Das Büro undjurekbrüggen baute einen Garagenkomplex aus den 1950er- und -60er-Jahren in ein Gemeinschaftshaus um und stattete das Dach mit Agro-PV aus. Durch Agro-PV werden Flächen zweifach genutzt. Heute gibt es in der atmosphärischen Industriearchitektur Einzel- und Familienwohnungen für aktuell 105 Erwachsene und 65 Kinder. In Alt- und Neubauten wurden verschiedenste Wohngrundrisse zwischen 25 und 250 m² eingepasst. Moderne Konzepte des Zusammenlebens erhielten Raum – vom Single-Wohnen für Alte bis zur großen WG mit Gemeinschaftsküche für sechs Parteien, insgesamt zehn Bewohnern. Ihre Wohnungen selbst haben keine Küche, allerdings vorbereitete Anschlüsse, um für zukünftige Änderungen gerüstet zu sein. In einem Fall teilen sich drei Familien ein erweitertes Wohnzimmer. Im Erdgeschoss der alten Fabrik sind die Wohnungen fürstliche 3,60 m hoch. Solche größeren Raumhöhen führen auch zu einem besseren Raumklima, wie aktuelle Forschungen von Prof. Florian Nagler in Bad Aibling zeigen. Ein Gemeinschaftshaus mit Boulderwand fand im Turm Platz.
Das Denkmalamt lobt das Hauptgebäude mit dem Turm als „ansprechendes Beispiel für den Industriebau des späten 19. Jahrhunderts in charakteristischer Sichtziegelbauweise“ und betont: „Der Trockenturm wurde als wirkungsvoller gestalterischer Akzent des Komplexes eingesetzt.“
Ohne Denkmalwert waren die zwischen 1945 und 1967 entstandenen Nebengebäude, die nur dem sog. Umgebungsschutz unterliegen. Drei der Häuser wurden abgetragen und auf dem erhaltenen Fundament in der gleichen Kubatur wieder neu erstellt.
Die alte Saftfabrik ist konstruktiv unterschiedlich gebaut, als Holzbau bzw. modern in Stahl und Stein. Mit möglichst wenigen Änderungen wurde saniert und mit Augenmaß weiterentwickelt. Dabei legten die Mitglieder der Genossenschaft auch selbst Hand an und dämmten die Baracke „Halle 36“ selbst außen neu. Das denkmalgeschützte Hauptgebäude mit dem zentralen Turm erhielt eine ökologische Innendämmung mit mineralischem Bindemittel und Perliten. Der relativ schwere Dämmstoff puffert auch das Innenraumklima besser als ein leichter.
Gestaltgebendes Thema war der Brandschutz. Für den zweiten Rettungsweg des Attikageschosses von Haus 17 war eine Treppe im Innenhof geplant gewesen. Dagegen erhob das Denkmalamt Einspruch. Um die Backsteinfassade nicht zu beeinträchtigen, wurde darauf auch der zweite Rettungsweg innen geführt.
Recycling und ökologische Neubauten
Wunsch der Genossenschaft war es, besonders nachhaltig zu bauen und den Bestand und seine graue Energie zu erhalten. Es galt, ihn zu ertüchtigen und dabei möglichst viel zu recyceln und ökologische Materialien wie Holz, Stroh und Lehm zu verwenden. Gebaut wurde überwiegend in Holzleichtbauweise. Die neuen Geschossdecken sind aus Vollholz. Bei seiner Fertigstellung 2017 war Haus 28 das damals größte Strohballenhaus Europas. Das zweigeschossige Mehrfamilienhaus mit elf Wohnungen und 1.155 m² steht auf dem Fundament einer abgetragenen Industriehalle aus den 1930er-Jahren. Höhere belastete Streifenfundamente wurden unterfangen oder ersetzt. Für „Halle 36“ wurden auch Fenster und Türen weiter verwertet. Das zweigeschossige Haus 11 wurde mit Holzkonstruktionen aufgestockt. Längsseitig erhielt es einen zweigeschossigen, thermisch abgetrennten Laubengang.
Die alten Fenster der Fabrik wurden zu Kastenfenstern ertüchtigt und die Leibungen innen gedämmt, damit zwischen den Scheiben keine Feuchtigkeit kondensieren kann. Insgesamt wurde mit Augenmaß gedämmt. Fast alle denkmalgeschützten Gebäudeteile erhielten eine Innendämmung. Außen gedämmt wurde nur die Rückseite von Haus 11. Nur die sehr dicken Mauern von Haus 17 wurden gar nicht gedämmt, sodass die massiven Mauern heute noch thermische Solarenergie hindurchlassen.
Auf den Dächern der drei Neubauten wurde bis 2017 PV mit einer Leistung von gut 80 kWp installiert. 2022 wurden 78 MWh geerntet. 2023 kam auf dem Gründach des neuen Gemeinschaftshauses eine Agro-PV-Anlage mit 3,3 kWp hinzu. Laut Hersteller sollen die runden Röhrenmodule Sonnenenergie besser über den Tagesgang sammeln als plane Kollektoren, sodass ihre Leistung 5,0 kWp entspreche. Ein gasbetriebenes Blockheizkraftwerk mit 19 kW elektrischer und 39 kW thermischer Leistung erzeugte 2022 weitere 102 MWh Strom. In den ersten Jahren konnte es aufgrund der Übertragung von Infraschall in die benachbarten Wohnungen nur wenig laufen. Es deckte nur etwa 15 % der Wärmeproduktion ab. Schließlich gelang es, es so zu entkoppeln und zu dämmen, dass die Nachbarn nicht mehr von dem Lärm betroffen sind. Seitdem kann es in der Heizperiode kontinuierlich laufen und erzeugt über das Jahr ca. 40 % der Heizenergie.
In den Neubauten gewinnen drei Wärmepumpen (WP) zusammen 20 kW Wärme aus der Abluft der Wohnungen. Sie arbeiten kontinuierlich und sollten über das Jahr rund 10 bis 15 % der Wärme produzieren. 2023 war es weniger, weil es Probleme mit dem Zusammenspiel der Wärmeerzeuger gab. Zeitweise war die Temperatur des Rücklaufs zu groß, sodass die WP nicht mehr einspeisen konnten. 2024 wurde eine elektrische Nachheizung installiert, die auch im reinem Wärmepumpen-Betrieb die notwendige Ausgangstemperatur für die Legionellensicherheit garantiert.
Wird mehr Wärme gebraucht, wird überwiegend ein Pelletkessel mit 100 kW Leistung zugeschaltet. Ein Gas-Brennwertkessel mit bis zu 200 kW Leistung kommt i. d. R. nur sehr selten für weitere Spitzenlast zum Einsatz, etwa wenn die Temperaturen sehr niedrig sind. Er wird wie das BHKW mit Gas von Green Planet Energy betrieben, das eine maximale Beimischung von Windgas enthält. Da die Preise der Energieträger 2023 besonders schwankend waren, wurden Pellet- und Gaskessel zeitweise davon abhängig eingesetzt. Überwacht werden die Anlagen durch die sog. Energie-AG. Die Wärme der Produzenten wird in einen Führungs- Pufferpeicher mit 820 l eingespeist. Dieser wird durch insgesamt vier weitere Speicher mit je 1.760 l ergänzt. „Das ist ziemlich groß“, bestätigt Bernhard Knierim, ein Mitglied der Energie-AG, und fährt fort: „Aber das ist für das System so durchaus sinnvoll, um überschüssige Wärme für später speichern zu können.“ Nahwärmeleitungen versorgen alle Gebäude.
Nachhaltiges Leben und soziales Miteinander sind beim Uferwerk in allen Bereichen wichtig. Die Klimawerkstatt Werder (www.klimawerkstatt.info), auf dem Gelände in Halle 36 untergebracht, veranstaltet regelmäßige Reparatur-Treffs und betreibt Näh-, Holz-, Metall- und Fahrradwerkstätten. Der gemeinnützige Verein „Halle 36“ (www.halle36.org) im gleichen Gebäude realisiert Bildungsangebote im Bereich Kunst, DIY und Umweltschutz. Zudem sind die Mitglieder der Genossenschaft in weiteren AGs aktiv, etwa für Bau und Mobilität. Die AG Mobilität betreibt nachbarschaftliche Car-, Lastenrad- und ÖPNV-Ticket-Sharings. Die Car-Sharing-Autos werden z. T. elektrisch mit dem selbst produzierten Strom betrieben. Professionell durch ein Buchungs- und Abrechnungstool unterstützt, kann sogar das private Auto geteilt genutzt werden. Damit die Car-Sharing- Autos gut ausgelastet sind, haben bereits mehrere Familien eigene Autos abgeschafft.
Wichtig war der Genossenschaft auch die Renaturierung des Areals. Dazu wurde der Boden entsiegelt und bepflanzt. Heute blühen um die Häuser Wildblumen und heimische Pflanzen wie der blutrote Storchschnabel oder die Golddistel. Auf kleinen Parzellen haben die Bewohner bunte, essbare Gärten angelegt. Eine einzige asphaltierte Straße führt von zwei Seiten in das Areal, sodass für die Feuerwehr alle Häuser erreichbar sind. Sie ist auch für Rollstühle geeignet und wird mit Radrennen und als Malfläche bespielt. Auf dem Gelände gibt es Obst-, zum See auch größere Bäume auf Wildflächen. Eine Gruppe legte einen Garten der Stille an, der schön und differenziert bepflanzte Flächen als Rückzugsort anbietet.
So ist aus der alten Saftfabrik durch großes Engagement trotz engem Budget ein lebenswertes Zuhause geworden. Es ermöglicht neue Lebensverhältnisse und lässt die aktuelle, bemüht minimalistische Architektenästhetik weit hinter sich.
Projektdetails
Baujahr 1870 |
Bauherr Uferwerk eG mit 100 Mitgliedern (www.uferwerk.org) |
Gesamtplanung winterer + mohr Architektinnen, Berlin (www.winterer-mohr.eu) |
Planung Gemeinschaftshaus undjurekbrüggen (www.undjb.eu) |
Umbauter Raum 5.300 m² für 60 Wohneinheiten |
Energetische Kennwerte Strohballendämmung, Zellulosedämmung, mineralische Innendämmung, Kastenfenster, Nahwärmeleitungen, Pelletkessel, gasbetriebenes BHKW, Abluft-Wärmepumpen, fünf Pufferspeicher, Weiternutzung von Gebäuden und Bauteilen wie Fundamente, Fenster, Türen |
Sozialer Mehrwert Umsonstladen, Food-Coop, Werkstätten, Co-Working-Space |
Nachhaltige Wärmeproduktion
Produzenten mit Leistung und Energieanteil:
— Pelletkessel (100 kW Leistung) 45–50 %
— BHKW (Gas, 19 kW elektrisch, 39 kW thermisch) ca. 40 %
— drei Luft-Wärmepumpen (ges. 20 kW) 10–15 %
— Gas-Brennwertkessel (200 kW) nur für Spitzenlast
Das eingesetzte Gas stammt von der Firma Green Planet Energy und enthält eine maximale Beimischung von Windgas. Die Steuerung der Anlage ist komplex und eine große Herausforderung.
Die Architektin Mohr rät aus dieser Erfahrung, nicht mehr als zwei Wärmeproduzenten einzusetzen.
Der Autor
Achim Pilz
Dipl.-Ing. Architektur Achim Pilz publiziert seit 2002 über nachhaltiges Bauen und baubiologischen Städtebau. Er ist freier Fachjournalist, Dozent „baubiologische Stadtlandschaften“, Buchautor, Baubiologe IBN und Chefredakteur von „baubiologie-magazin.de“. Er studierte an den Universitäten Wien, Aachen, Stuttgart und arbeitete in deutschen und indischen Planungsbüros.
www.bau-satz.net