Lebensort Vielfalt in Berlin: Ein Haus für alle

Lebensort Vielfalt in Berlin: Ein Haus für alle

Realisierte Objekte

Lebensort Vielfalt in Berlin: Ein Haus für alle

Foto (Header): © STEFAN MÜLLER

Ein Haus zu bauen bedeutet auch, sich der Öffentlichkeit zu zeigen. Für den neuen Hauptsitz der Schwulenberatung Berlin nahe am Bahnhof Südkreuz stellte sich daher vor allem die Frage: Wie soll er im Stadtraum wirken, dieser Ort für LSBTI*, für Lesben, Schwule, Bi-, Trans- und Intersexuelle sowie queere Menschen? Eher bunt und non-konformistisch oder möglichst zurückhaltend? Oder beides? Entstanden ist ein Eckgebäude, das sich souverän als besonderer Ort im Stadtbild behauptet und sich gleichzeitig selbstverständlich in das neu entstandene Quartier fügt.

Auszug aus:

Mit Start eines Konzeptverfahrens 2016 wurde es im neuen Stadtquartier in der Schöneberger Linse möglich, der Schwulenberatung in der Hauptstadt einen eigenen Ort zu geben. Einen Ort, der ein Signal in die Stadt und ihre Öffentlichkeit sendet. Denn auch in Berlin brauchen Männer, die Männer lieben, und Frauen, die Frauen lieben, einen geschützten Raum, in dem sie sein können, wie sie wollen.

Dem Bebauungsplan folgend, realisierten roedig. schop architekten als Teil einer Blockrandbebauung einen L-förmigen Baukörper mit sechs Vollgeschossen, einem Staffelgeschoss und einem Untergeschoss. Das Gebäude vereint eine Vielzahl an Nutzungen unter seinem Dach. Im Erdgeschoss sind sie ausschließlich öffentlich: Hier liegen der Empfangsbereich für die Hauptstelle der Schwulenberatung und eine Kita für 45 Kinder, ein Kiezraum, ein Bistro und eine Beschäftigungstagesstätte. Im 1. OG sind Büro-, Besprechungs- und Beratungsräume der Schwulenberatung angeordnet. Die darüberliegenden Geschosse vom 2. OG bis zum Staffelgeschoss dienen Wohnnutzungen: Hier befinden sich 69 barrierefreie Apartments, mit einem Mix aus geförderten und frei finanzierten 1- bis 5-Zimmer-Wohnungen (Wohnungsgrößen von 28 – 284 m²), einer Krisen-WG für drei Personen, einer Pflegewohneinheit für bis zu acht Personen, zwei Wohngemeinschaften und drei rollstuhlgerechte Wohnungen. Nahezu der gesamte Innenhof des Blocks steht allen Bewohnern und Nutzern offen; einzelne Bereiche wie ein kleiner Gemeinschaftsgarten oder der Freibereich der Kita sind für bestimmte Nutzungen reserviert.

Vielfalt der Nutzungen

In seiner Vielfalt der Nutzungen steht das Gebäude auch für den Anspruch, neben der Wohnnutzung einen Beitrag für das Quartier zu leisten. Prinzip ist, dass die frei finanzierten Wohnungen die geförderten unterstützen. Kleine wie große Wohnungen haben großzügige Balkone, um immer einen guten Bezug zum Außenraum zu gewährleisten. Auf der Straßen- und Platzseite wurden sie aus Lärmschutzgründen verglast. Immer gibt es bodentiefe Fenster, die viel Licht ins Innere lassen. So wirken auch kleine Wohnungen großzügig. Besondere Qualitäten bietet zudem das Staffelgeschoss, dessen Terrassen zur Straßen- wie zur Innenhofseite teils öffentlich sind und damit allen Bewohnerinnen und Bewohnern zu jeder Tageszeit den Aufenthalt im Freien in Sonne oder Schatten erlauben.

1 | Schwarzplan mit Schöneberger Linse
FOTO: STEFAN MÜLLER

2 | Grundriss 2. OG, Wohnen
FOTO: STEFAN MÜLLER

Sonnenschutz

Die tiefstehende Wintersonne, die durch die großzügigen, bodentiefen Fenster weit in den Raum scheint, trägt zum Wohlbefinden der Bewohner bei. Dieser Sonneneintrag wärmt in der kalten Jahreszeit die Innenräume auf und spart wertvolle Heizenergie. Allerdings bedarf es im Sommer baulicher Maßnahmen, um das Entstehen von unzumutbar hohen Temperaturen im Innenraum zu verhindern. Die hierfür notwendigen Berechnungen zum sommerlichen Wärmeschutz erfolgten nach DIN 4108-2. Dabei wurden die Räume einzeln betrachtet und die Festlegung getroffen, ob ein außen oder innen liegender Sonnenschutz nötig ist. Entscheidend ist die Größe der Räume sowie deren Himmelsrichtung. Die außen liegenden Fenstermarkisen fügen sich mit dem orangen Farbton harmonisch in das Farbkonzept der Fassade. Sie setzen farbige Akzente und sind über die Fassadenfläche verteilt angeordnet. Die Fenstermarkisen werden individuell mittels Taster elektrisch gesteuert. Auch bei geschlossenem Screen ist die Durchsicht von innen nach außen weiterhin möglich und wahrt so den Bezug zum Außenraum. Der innen liegende Sonnenschutz verfügt über eine mechanisch zu bedienende Rolloanlage in einem weißen Farbton, passend zu den weißen Innenwänden.

3 | Die außen liegenden Fenstermarkisen fügen sich mit dem orangen Farbton harmonisch in das Farbkonzept der Hoffassade.
FOTO: STEFAN MÜLLER

4 | Die Fassade wurde ab dem 1. OG punktuell mit leicht zurückgesetzten farbigen Faserzementtafeln bekleidet, die Balkone sind auf der Straßen- und Platzseite aus Lärmschutzgründen verglast.
FOTO: STEFAN MÜLLER

Fassadengestaltung

Die Straßenfassade spiegelt den Nutzungsmix nach außen und vermittelt zwischen einem individuellen Ausdruck und einer selbstverständlichen Integration ins Quartier: Die Fassade wurde ab dem 1. OG punktuell mit leicht zurückgesetzten farbigen Faserzementtafeln bekleidet, die in einer hellen Putzfläche liegen. Der Farbkanon der farbigen Tafeln reicht von grün über gelb bis hin zu orange bei den Sonnenschutzmarkisen. Dieses Farbspiel interpretiert die Möglichkeiten des Material- und Farbkanons, der über die Gestaltungssatzung des Bezirks vorgegeben war und das strenge Raster der Balkone belebt. Der Sockel des Erdgeschosses wurde mit einer geerdet wirkenden Sichtbetonfassade bekleidet. Die Markierung des Ortes erfolgt einzig über den Schriftzug „Lebensort Vielfalt“, der alle Nutzungen in sich vereint.

5 | Kunst am Bau im Wohnflur: „Unendliches Spektrum“ von J&K (Janne Schäfer und Kristine Agergaard)
FOTO: STEFAN MÜLLER

Gemeinschaftliche Verbindungen

Im Inneren steht das Prinzip einer Gemeinschaft vieler verschiedener Lebensentwürfe im Zentrum. Die Architektur befördert, dass die Bewohnerinnen und Bewohner sich an vielen Orten und zu vielen Gelegenheiten begegnen. Dazu dienen einerseits spezifische Orte wie der Gemeinschaftsraum – dessen konkrete Nutzung unter der Bewohnerschaft ausgehandelt werden soll –, das Bistro oder der Innenhof. Viel subtiler, aber nicht weniger effizient, agieren die Wege im Gebäude als Orte des Austausches. So ist das gesamte Erdgeschoss über Türen flexibel zusammenschaltbar, um beispielsweise am Abend die Räume der Kita für Veranstaltungen nutzen zu können.

Die Flure der Wohngeschosse bieten ungewohnte Qualitäten: Sämtliche Innenbereiche vom Erd- bis zum Staffelgeschoss sind miteinander verbunden; die Wege funktionieren als eine Art Dorfstraße, auf der man sich trifft. Als Nutzerin oder Nutzer des Gebäudes kann man jeden Ort im Inneren erreichen, ohne dafür ins Freie treten zu müssen. Zudem wird in den Mittelfluren der vier reinen Wohngeschosse ein Anders-Denken konkret zu Raum: Die Flure wurden leicht aus der Achse gelenkt, kreuzen sich an der Gebäudeecke und ihr kürzeres Ende führt jeweils zum Tageslicht hin. So entsteht zudem ein großzügiger Eingang für jeden Flur – im Kontrast zu den Treppenhäusern, die aus wirtschaftlichen Gründen auf das erforderliche Maß geplant wurden. Die ungewohnte Form der Flure half außerdem, den geforderten Wohnungsmix mit geringen Größenabstufungen zu realisieren. Vier unterschiedliche Künstlerinnen und Künstler gestalteten die Wände dieser vier Flure – gemeinsames Thema war die Vielfalt an Lebensentwürfen aber auch Problemlagen von LSBTI*-Menschen. So erhält jeder der Wohnflure einen ganz eigenen Charakter.

Über das Projekt wird gesellschaftliche Vielfalt als Architektur erlebbar: Der Neubau der Schwulenberatung Berlin darf als gebauter Ausdruck des Respekts gegenüber jedem einzelnen Individuum verstanden werden. Die Einzigartigkeit und Wichtigkeit individueller Bedürfnisse in unserer Gesellschaft findet Anerkennung, wird geschätzt und bekommt Raum. Denn entstanden ist ein Ort für alle – nicht nur für LSBTI*-Menschen, sondern auch für die heteronormative Gesellschaft, die hier selbstverständlich integriert ist: Der „Lebensort Vielfalt“ ein Ort, an dem sich niemand erklären muss.

Ausgezeichnet!
Der BDA PREIS BERLIN würdigt als Architekturpreis des BDA Berlin beispielgebende baukünstlerische Leistungen in der Bundeshauptstadt und wird alle drei Jahre an Bauherren und Architekten gemeinsam vergeben. Zusätzlich lobt der BDA Berlin auch einen Publikumspreis aus, über den in einer öffentlichen Abstimmung entschieden wird. 114 Projekte unterschiedlicher Typologien wurden 2024 eingereicht. Das Projekt „Lebensort Vielfalt“ belegte mit 1.720 Stimmen der insgesamt über 10.000 abgegebenen Stimmen deutlich den ersten Platz.

Herzlichen Glückwunsch!

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