Quartiersentwicklung mit Baugemeinschaften: „Bikes and Rails“ im Sonnwendviertel

Quartiersentwicklung mit Baugemeinschaften: "Bikes and Rails" im Sonnwendviertel

Realisierte Objekte

Quartiersentwicklung mit Baugemeinschaften: „Bikes and Rails“ im Sonnwendviertel

Text: Achim Pilz | Foto (Header): © IBA WIEN / RALO MAYER

Im Sonnwendviertel, südlich des Wiener Hauptbahnhofs, entstanden in den letzten Jahren Raum für 13.000 Bewohner, 20.000 Arbeitsplätze, ein Schulcampus und zahlreiche Geschäfte sowie ein großer Park. Der innovative östliche Teil wurde in einem mehrstufigen, kooperativen Planungsverfahren entwickelt und bis 2023 kleinteilig bebaut. Besonders Baugemeinschaften und Quartiershäuser, wie die Baugruppe „Bikes and Rails“, beleben ihn.

Auszug aus:

Auf dem Gelände des ehemaligen Frachtenbahnhofs wurde 2004 mit einem städtebaulichen Masterplan für den neuen Hauptbahnhof auch ein 7 ha großer Park vorgesehen. Westlich davon sollten vor allem Wohnbauten entstehen. Östlich an den Park sollten sich Wohnbauten anschließen, eine Erschließungsstraße und zur Eisenbahn hin Büro und Gewerbe. In der Folge wurden geförderter und frei finanzierter Wohnbau realisiert – sowohl zur Miete als auch im Eigentum, Baugruppen-Projekte, Quartiershäuser, ein Studierendenwohnheim, Hotels, Angebote für temporäres Wohnen sowie soziale und kulturelle Angebote. Diese städtische Dichte konnte nur entstehen, weil kooperativ geplant wurde – zumindest im zweiten Abschnitt. Im Viertel westlich des Parks wurde noch konventionell eine Blockrandbebauung mit geschlossenen Kanten und Tiefgaragen, geschützten Innenhöfen und wenig Infrastruktur realisiert. Zudem wurde das westlich an das Gebiet anschließende Gründerzeitviertel saniert.

Kooperativer neuer B-Plan

Nach kritischen Stimmen und weil es nicht genug Interessenten für die Gewerbeflächen gab, sollte der zweite Abschnitt, das Sonnwendviertel Ost zwischen Park und hoch geführter Bahntrasse mit einer Gesamtfläche von 11 ha, grundsätzlich anders entwickelt werden – kooperativ. Dazu analysierte ein Planungsteam 2012 Qualitäten, Mängel und Möglichkeiten des Masterplans von 2004. In einem Vertrag stimmte die Stadt einer Änderung des Planes zu, mit der Bedingung, kleinteilig zu bauen.

Für die Überarbeitung konnten Architekten zwei DIN-A4-Blätter mit Ideen einreichen. Aus diesen Vorschlägen wurden zehn ausgesucht und kooperativ weiterentwickelt. In mehreren Workshops arbeitete ein Team aus Rüdiger Lainer + Partner Architekten ZT (RLP), Architekt Franz Denk, Artec Architekten, StudioVlay, Gasparin Meier Architekten, Architekt Max Rieder, die Stadt und die ÖBB als Grundeigentümerin gemeinsam einen neuen Masterplan aus.

Die beiden größten Innovationen waren eine neue Fußgängerzone in der Mitte des Gebiets und dass der Verkehr nach außen, entlang der Bahnlinie verlegt wurde. Gewerbegebäude und zwei Hochgaragen schirmen die Wohnbebauungen weitgehend ab. Für eine städtische Vielfalt und stadträumliche Qualität sind die Parzellen bunt durchmischt. 14 Bauplätze an prägnanten Lagen wurden für Baugruppen und Quartiershäuser – mit einer Mischung aus Arbeiten, Wohnen und Infrastruktur und der Auflage, auch etwas für die Nachbarschaft anzubieten – reserviert.

Durch die Garagen am Rand stehen die Freiflächen auf gewachsenem Grund. „Sie sind nicht übersät mit Lüftungsschächten, wie im Westen“, betont Georg W. Reinberg, Architekt ZT, der das Haus der Baugruppe „Bikes and Rails“ (B’n’R) plante. „Es ist eine echte Geschäftsstraße entstanden, mit rechts und links Geschäften, Cafés und Restaurants. Das ist für so einen kleinen Stadtteil eine unheimlich gute Infrastruktur.“ In der Erdgeschosszone gibt es Supermärkte, Apotheken, Arztpraxen und Betriebe. Kleine Gewerbeeinheiten werden als Mikro-Lokale mit niedrigen Mietpreisen vor allem für Start-ups, Small Businesses, Ein-Personen-Unternehmen und kleine und mittlere Unternehmen zur Verfügung gestellt. Und so wurde das Quartier auch Teil der von 2016 bis 2022 dauernden IBA Wien mit ihrem zentralen Thema „Neues soziales Wohnen“.

1 | Das Sonnenwendviertel am Wiener Hauptbahnhof prägen vier Baugemeinschaften und zehn Quartiershäuser.
ABBILDUNG: IBA WIEN / KRAUT KOLLEKTIV

Neue Mobilität

Paradigmatisch wird in diesem zentral gelegenen, neuen Quartier nachhaltige Mobilität gefördert. Es ist gut für Fußgänger und Radfahrer angebunden, es gibt Sharing-Elektroautos, und die Stadt unterstützt innovative Mobilität durch ihren Mobilitätsfonds. Sie fördert Lastenräder, Trolleyboys, eine Radwerkstatt und diverse Sharing-Modelle für Mikromobilität. Für die meisten Gebäude war vorgeschrieben, die nötigen Pflichtstellplätze in den Hochgaragen unterzubringen.

Baugruppen und Quartiershäuser

Um eine städtische Vielfalt und stadträumliche Qualität zu erzeugen, wurden die Parzellen in unterschiedlichen Verfahren vergeben und das Quartier stark durchmischt. Zehn Quartiershäuser mit hoher architektonischer Qualität schaffen neben Wohnen auch öffentliche Angebote für die Nachbarschaft. Insgesamt vier Grundstücke gab es für Baugruppen, die relativ früh eingeladen wurden, sich für das Konzeptverfahren zu bewerben. Zu einer ersten großen Veranstaltung kamen 15 bis 20, in unterschiedlichen Rechtsformen konstituierte, Gruppen, die sich und ihre Konzepte vorstellten. Eine der Baugruppen war der Verein B’n’R mit ihrem Architekten Georg W. Reinberg. Dieser war mit drei Fahrrad Enthusiasten und mit Wohnbund, einer Organisation, die Gruppen und soziale Prozesse beim Bauen begleitet, ins Gespräch gekommen, worauf sie sich gemeinsam präsentieren. Ihr Ziel ist eine ressourcenschonende Lebensweise durch eine nachhaltige Mobilität mit Rad und Bahn und ein Passivhaus mit viel Holz und Photovoltaik auf dem Dach. Statt Tiefgarage sollte es eine große Fahrradgarage mit Ladestationen, ganz ohne Pkw-Stellplätze geben. Die Gruppe trat zu ihrer Präsentation mit Fahrradklingeln auf. „Das war ein toller Auftritt, der sehr viel Zuspruch gefunden hat“, erinnert sich der Planer. Er hatte erste Handskizzen für das sechsstöckige, möglichst kreislaufgerechte Gebäude präsentiert. B’n’R und weitere Gruppen durfte beim folgenden Bauträgerwettbewerb teilnehmen. In dem Wettbewerb war Bedingung, dass die Gruppe Beiträge für den Stadtteil liefert und es im EG – verpflichtend mit fast 3,0 m Raumhöhe – vielfältige öffentliche Nutzungen gibt.

2 | Das Erdgeschoss belebt ein öffentliches Café und ein Radladen sowie ein großer Gemeinschaftsraum, der an den Garten grenzt.
FOTO: IBA WIEN / HANNAH MAYR

3 | Das Café kann über eine Faltwand auch mit dem Gemeinschaftsraum verbunden werden.
FOTO: IBA WIEN / HANNAH MAYR

Kooperatives Treffen

Auch das nächste Treffen der Bewerber war kooperativ. B’n’R und weitere drei, durch eine Jury ausgewählte Baugruppen, stellten sich ihre Planungen gegenseitig vor und gaben Feedback. „Das war recht fruchtbar und sehr produktiv“, bestätigt Reinberg. „Allerdings mit dem Nachteil, dass das alles Gratisleistungen des Architekten waren.“ Er konnte mit der Bewohnergruppe gemeinsam besondere Angebote für die Belebung des kleinen, öffentlichen Platzes vor dem Gebäude entwickeln: ein Café, eine Radwerkstatt, ein Gemeinschaftsraum – auch öffentlich nutzbar – und ein mehrgeschossiger Wintergarten, sodass sie den Zuschlag bekamen. Gudrun Peller, Jurymitglied bei den Konzeptverfahren und Projektleiterin des Stadtteilmanagements, lobt, dass es gelungen ist, „die soziale Energie, die im Baugemeinschaftsmodell liegt, auch städtebaulich zu nutzen“.

4 | Der Radladen „Lenkerbande“
FOTO: IBA WIEN / HANNAH MAYR

Engagement für Autofreiheit

Später versuchten Hotels, die Fußgängerzone als gemischte Straße auszuweisen, damit man dort auch mit dem Auto fahren kann. Aber die Baugemeinschaften kämpften beim Bezirk erfolgreich dafür, dass sie autofrei blieb. Neben solchem zivilgesellschaftlichen Engagement bauen die Baugruppen mit Kulturangeboten und Veranstaltungen engagiert Nachbarschaft auf.

Vernetzte Erdgeschosszone

Reinberg plante und baute ein Passivhaus mit 18 Wohneinheiten und weiteren sozialen Nutzungen wie Flüchtlings-WG oder einer Gästeeinheit. Im Erdgeschoss können Café, Gemeinschaftsraum und Fahrradwerkstatt flexibel zusammengeschaltet und verwendet werden. Große Verglasungen und Öffnungen verbinden die Innenräume mit dem teilweise überdachten Außenraum. So entstand ein gut nutzbarer, sozialer, offener und interaktiver Ort für die Nachbarschaft, der durch Veranstaltungen des Hauses belegt wird. Vor dem Zugang zum Haus laden Sitzbänke zum Aufenthalt ein. Innen schließen sich ein großzügiger Durchgang zum Garten und der Zugang zum Gemeinschaftsbereich an, der zwischen Garten und Café/Werkstatt liegt.

Die Fahrradgarage im Keller erhielt eine Rampe und einen ausreichend großen Fahrstuhl. Da das Haus als Wohnheim gewidmet ist, musste nur ein Autoparkplatz in der Hochgarage mitfinanziert werden. Die Wohnungen erschließt ein großzügiges Treppenhaus mit Tageslicht und ein Wintergarten auf vier Geschossen. Er ist zugleich gemeinschaftlich genutzter Bereich und halbprivate Loggia. Pro Etage gibt es drei bis vier Wohneinheiten, die sich über große Glasflächen zum Wintergarten öffnen. Im Staffelgeschoss des Daches gibt es vier Wohnungen. Die Dachterrasse und der ebenerdige Garten werden gemeinschaftlich genutzt und das Haus gemeinschaftlich verwaltet. Der umgebende Grünbereich ist zwar klein, aber direkt mit dem Erdreich verbunden, wodurch auch große Bäume wachsen können.

5 | Gemeinschaftliches Wohnen: Der Wintergarten mit den Loggien ist ein großer Gemeinschaftsbereich. Er fasst die dahinterliegenden Wohnungen zu einem „cluster“ zusammen. Nach Norden orientiert sind die individuellen Zimmer.
ABBILDUNG: ARCHITEKTURBÜRO REINBERG

6 | Grundriss Erdgeschoss mit der Verwebung von schaltbaren Innen- und Außenräumen.
ABBILDUNG: ARCHITEKTURBÜRO REINBERG

Kreislauffähige Konstruktion

Die Wohnbereiche – fünf Geschosse konstruktiv vollständig aus Holz – sind auf das betonierte Erdgeschoss aufgesetzt und an die aussteifende Betonkonstruktion des Wintergartens angehängt. Dieser ist nicht beheizt, seine Masse kann die Sonnenwärme des Winters und die Nachtkühle des Sommers gut speichern. Grundsätzlich wurde Stahlbeton reduziert. Um eine sortenrein trennbare Demontage zu ermöglichen, erfolgte die horizontale akustische Trennung der Holzdecken über eine Schüttung. Der kompakte Baukörper entspricht dem Passivhausstandard, ist stark gedämmt und hat eine Lüftungsanlage mit Wärmerückgewinnung. Trotz des engen Rahmens des sozialen Wohnungsbaus ist der ökologische Standard hoch. Es gibt Holz-Alu-Fenster, Holzböden, -wände und -decken ohne Aufpreis für die Eigentümer. Das Regenwasser wird teilweise am Dach gesammelt und gänzlich vor Ort versickert.

7 | Der Wintergarten sorgt für ein angenehmes Raumklima mit gepufferten Temperaturspitzen. Belebt strahlt er ein neues Lebensgefühl in das Viertel.
FOTO: IBA WIEN / HANNAH MAYR

Finanzierung mit habiTat

Um die Wiener Wohnbauförderung zu erhalten, gab es einen sehr engen Kostenrahmen. Sonderwünsche wären darüber hinaus möglich gewesen. Aber B’n’R waren geringe Mieten am wichtigsten. Sie sind Teil des habiTAT, dem Mietshäuser Syndikat in Österreich, einem solidarischen Verbund von etablierten Hausprojekten und neuen Projektinitiativen (s. Kasten). Ihr Wohneigentum ist dauerhaft sozial gebunden.

B’n’R kaufte das Passivhaus vom Bauträger vor dem Einziehen und vermietet es nun günstig. Die notwendigen Eigenmittel stammen von der Hausgemeinschaft und externen Unterstützern, die über 2 Mio. Euro an privaten Direktkrediten gaben. So kann der m² geförderte Wohnfläche derzeit für ca. 10,60 Euro warm vermietet werden – für diese zentrale Lage ausgesprochen günstig.

Vom Klimabündnis Österreich wurde das Wohnprojekt als besonders nachhaltig ausgezeichnet. Auch die Jury des Wiener Holzbaupreises Wienwood verlieh ihm einen Preis und lobte: „Bikes and Rails zeichnet sich durch seinen ökologischen Schwerpunkt und einen besonders sozialen Anspruch aus.“

habiTAT/Mietshäuser Syndikat
habiTAT in Österreich sowie das ältere Mietshäuser Syndikat (www.syndikat.org) in Deutschland schaffen einen Solidarzusammenhang zwischen autonomen Hausprojekten. Die unterschiedlichen Projekte verbinden vor allem drei Aspekte: Immobilien dem spekulativen Wohnungsmarkt zu entziehen, dauerhaft bezahlbaren Wohnraum zu schaffen und diesen als Gemeineigentum selbst zu verwalten. Die Organisationen verbinden und organisieren einen Ausgleich zwischen alten und neuen Projekten, um Ressourcen zu teilen und die dafür erforderliche Kommunikation möglich zu machen. Das Mietshäuser Syndikat – gegründet 1992 – ist dabei inhaltlich eine Art internationale Dach- oder Sekundärgenossenschaft, allerdings rechtlich keine eG. Es wird ehrenamtlich und nicht kommerziell weiterentwickelt, ähnlich wie bei Open-Source-Programmen. 2012 erhielt es den Klaus-Novy Preis für Innovationen beim genossenschaftlichen Bauen und Wohnen.

Der Autor


Achim Pilz
Dipl.-Ing. Architektur
publiziert seit 2002 über nachhaltiges Bauen und baubiologischen Städtebau. Er ist freier Fachjournalist, Dozent „baubiologische Stadtlandschaften“, Buchautor, Baubiologe IBN und Chefredakteur von „baubiologie-magazin.de“. Er studierte an den Universitäten Wien, Aachen, Stuttgart und arbeitete in deutschen und indischen Planungsbüros.
www.bau-satz.net

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