Realisierte Objekte
Gemeinschatswohnen in Wedding: 19 Minuten
Text: Olaf Schäfer & Philipp Wenninger | Foto (Header): © MARKUS LÖFFELHARDT | WWW.A-A-K.COM
Wir bauen ein Haus aus Holz, das in 19 Minuten nachgewachsen ist! Unter diesem Motto entstand im Jahr 2018 eines der größten Holzhäuser Deutschlands, das kostengünstig, nachhaltig und gemeinschaftlich sein sollte. Inmitten der Hauptstadt, direkt am Kiez-Eingang des S-Bahnhofs Wedding, schafft der dreiteilige Gebäuderiegel mit 98 Einheiten in der Lynarstraße nicht nur neuen Wohnraum, sondern auch ein neues Nachbarschaftsgefühl.
Auszug aus:
QUARTIER
Ausgabe 6.2019
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Gemeinschaftlich Wohnen funktioniert für Jung und Alt und bietet Singles, Paaren und Familien die Möglichkeit, sich untereinander auszutauschen und den Alltag miteinander zu teilen. Mit genau diesem experimentellen Wohnkonzept begegnet die WBG „Am Ostseeplatz“ eG gezielt der seit Jahren wachsenden Nachfrage an Raum für gemeinschaftliche Wohnprojekte.
Die Wahl auf den Baustoff Holz fiel in Anbetracht seiner Vorteile zügig und ohne Zweifel. Es ist kein Geheimnis, dass der ökologische Fußabdruck eines Holzhauses im Vergleich zu anderen konventionellen Häusern bedeutend geringer ausfällt. Mit einem erheblichen Potenzial zur Speicherung von Kohlendioxid leistet der Holzbau einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz und kann zukünftig andere, immer knapper werdende Materialien nachhaltig ersetzen. Das Holzhaus in der Lynarstraße liefert einen weiteren Beweis dafür, dass Holz nicht nur das Raumklima, sondern auch das soziale Klima verbessert.
Das 120 m lange und ca. 20 – 30 m breite Grundstück befindet sich in der Lynarstraße in Berlin-Wedding direkt an der innerstädtischen Ringbahntrasse. Von hier aus verkehren die Berliner S-Bahn, alle Arten des ÖPNV sowie Güterzüge. Südlich der Bahntrasse hat der Chemiekonzern Bayer AG seinen Sitz. Charakterisiert durch gründerzeitliche Wohnbebauung, befindet sich außerdem der Sprengelkiez im direkten Umfeld der Lynarstraße. Gemäß Bebauungsplan wurde die Fläche für Wohn- und Gewerbebebauung vorgesehen.
Der ursprünglich als Arbeiterbezirk geltende Teil Berlins hat sich mittlerweile zu einem bunten Stadtteil entwickelt. Inmitten einer kulturellen Vielfalt wohnt man im Wedding sowohl zentral als auch im Grünen. Durch die gute öffentliche Anbindung gelangt man nicht nur schnell ins Stadtzentrum, sondern auch problemlos in viele Außenbezirke Berlins. Mit zahlreichen Cafés, Kneipen und Restaurants haben Bewohner und Besucher ein durchmischtes Angebot im Kiez.
Neben der guten Infrastruktur gibt es viele soziale Einrichtungen und Vereine für Kinder, Jugendliche, Familien und auch Senioren. Lokale Treffpunkte, wie z. B. der Sparrplatz im Sprengelkiez direkt gegenüber der Lynarstraße, stärken die nachbarschaftliche Gemeinschaft zusätzlich. Mit dem Konzept des Gemeinschaftswohnens im Wedding fügt sich das Projekt der WBG mit seinen Zielen und Werten zu einem neuen soziologischen Ankerpunkt in die Umgebung ein.
Mit der Gründung im Jahr 2000 hat sich die WBG „Am Ostseeplatz“ eG als Wohnungsbaugenossenschaft zusammengeschlossen, um ihren Mitgliedern langfristig gute Wohnungen zu sozialverträglichen Preisen anzubieten. Neben Gleichheit, Solidarität und Demokratie sind insbesondere Selbstverantwortung und das Interesse an anderen Menschen grundlegende Werte der WBG. In Anbetracht der wachsenden Nachfrage an gemeinschaftlichen Wohnprojekten hat sich die Genossenschaft im Berliner Bezirk Wedding einer besonderen Herausforderung gestellt und auf einer als ungeeignet eingestuften Berliner „Restfläche“ bezahlbaren Wohnraum realisiert. Jedes Mitglied der Genossenschaft hat den Vorteil geringer Betriebskosten und genießt ein Dauernutzungsrecht an Wohnungen.
Für das generationenübergreifende Gebäudekonzept hat die WBG ihre Mieter im Vorfeld gesucht und zusammengebracht, sodass eine gesamte Etage an eine Bewohnergruppe vergeben werden konnte. Durch regelmäßige Baustellenbesichtigungen wurde jedem Mieter die Chance geboten, das Baugeschehen hautnah mitzuverfolgen und das zukünftige Zuhause mitzugestalten.
Mit dem Konzept des Clusterwohnens wurde das Projekt „Gemeinschaftswohnen im Wedding“ für das Programm „Experimenteller Geschosswohnungsbau in Berlin“ im Rahmen des Sondervermögens Infrastruktur der wachsenden Stadt (SIWA) ausgewählt. Die daraus gewonnenen Fördermittel wurden für Bewohner mit Wohnberechtigungsschein (WBS) vorbehalten. 47 Wohneinheiten werden pro m² für 6,50 Euro/netto kalt vermietet, die übrigen Wohnungen für 8 bis 9 Euro/netto kalt. Nur Bewohner im obersten Geschoss zahlen 12 bis 13,50 Euro/netto kalt pro m².
Entlang der Lynarstraße und parallel zur Bahntrasse erstreckt sich ein Gebäudekomplex bestehend aus drei Gebäudeteilen. Auf einem Erdgeschoss aus Stahlbeton wurden sechs Geschosse aus Holz für Mietwohnungen im niedrigen Preissegment errichtet. Insgesamt 98 Wohneinheiten, davon die Hälfte Sozialwohnungen, sowie sieben Gewerbeeinheiten sind barrierefrei geplant und realisiert.
Die drei Gebäudeteile W, B und G werden durch sogenannte „Canyons“ unterbrochen. Diese sind in einer gedachten Verlängerung zur benachbarten Sparrstraße angeordnet, sodass der Gebäudekomplex in den Kiez und umgekehrt integriert wird. Verbunden und erschlossen werden die Gebäudeteile über großzügige Stahlbrücken, sodass aus den „Canyons“ auf jeder Etage eine frei zugängliche Begegnungsfläche entsteht. Neben den überdachten Außentreppen werden die Obergeschosse über zwei innen liegende Aufzüge erschlossen.
Mit der Intention, die Bruttogrund- und Wohnungsfläche maximal auszunutzen, entstanden die Grundrisse unter dem Konzept experimenteller gemeinschaftlicher Nutzung als Clusterwohnungen. Das heißt im übertragenen Sinne: Um die größtmögliche Durchmischung und ein gemeinschaftliches Zusammenleben zu erreichen, ist jedes Geschoss im jeweiligen Baukörper eine Wohnung, die im „WG-Charakter“ in Ein- bis Fünf-Raum-Apartments unterteilt ist. Jede Wohneinheit, mit einer lichten Raumhöhe von 2,70 m, besitzt ein eigenes Dusch- oder Wannenbad mit Waschmaschinenanschluss, eine kleine Pantryküche und einen eigenen Balkon. In jedem Baukörper sind die Wohneinheiten über Gemeinschaftsräume miteinander verbunden. Im östlichen und westlichen Baukörper spiegelt sich dieser Bereich durch eine große Wohnküche mit Gemeinschaftsbalkon und im mittleren Baukörper durch großzügige Wohnflure wider. Die geräumige Fläche wurde konzipiert, um eine besondere räumliche Nähe der Bewohner untereinander zu schaffen. Hier bleiben die Türen offen, es wird untereinander kommuniziert, und Kinder können miteinander spielen. Auch die großzügigen Brücken, die alle drei Gebäudeteile miteinander verbinden, fungieren als soziale Treffpunkte für die Bewohner der Häuser.
Im Staffelgeschoss befinden sich klassische Wohneinheiten mit Dachterrassen. Die gewerbliche Nutzung im Erdgeschoss wurde mittels einer Umfrage im Kiez nach dem größten Bedarf angepasst. Ein Integrationskindergarten, eine altersgerechte Wohngruppe, eine Diakonie sowie eine Obdachlosenküche unterstreichen nicht nur das Gemeinschaftsprojekt, sondern stärken die soziale Bindung zum Kiez.
Auch die Außenanlagen sind auf eine gemeinschaftliche Nutzung ausgelegt. Über die frei zugänglichen „Canyons“ werden Grill- und Sportflächen gemeinschaftlich genutzt. Der mittlere Baukörper B ist unterkellert, hier befinden sich Fahrradstellplätze und Abstellräume für die Mieter.
Nach vielen Gesprächen und Festlegungen zum Entwurfskonzept im Jahr 2016 folgte ein Jahr später die Baugenehmigung. Der Baubeginn durch Erdarbeiten und den Rohbau im Jahr 2017 erstreckte sich bis zum Januar 2018. Bevor der Ausbau erfolgen konnte, entstand das Holzhaus geschossweise über sechs Wochen je Gebäude. Das Haus W wurde Ende Juli 2018 fertiggestellt. Im September 2018 folgte Haus G und im Dezember 2018 das mittlere Haus B. Mit einer Bauzeit von knapp über einem Jahr für 6.700 m² Wohnfläche ist der Bau mit Holz, durch die serielle Fertigung, ca. 7 bis 8 Monate schneller als in konventioneller Bauweise mit Beton.
Die für die Holzfassade verwendete Douglasie aus dem mitteleuropäischen Raum wurde im Werk zusammen mit den Außenwänden vorgefertigt und am Stück, inklusive Fenster, auf die Baustelle geliefert. Deckenelemente aus Brettsperrholz mit einer Länge von bis zu 19,80 m wurden ebenfalls als Fertigteilscheiben eingebaut. Der logistisch vorteilhafte Ablauf machte sich auch bei der Anzahl der Mitarbeiter bemerkbar: Für den Holzbau wurden vier Leute pro Geschoss eingesetzt, wohingegen der Rohbau die Beschäftigung von 15 Leuten gleichzeitig erforderte. Architektonisch so konzipiert, verwittert das unbehandelte Holz im Laufe der Zeit, je nach Lage und Witterungseinfluss, von Holzbraun, über Weißgrau-silbrig bis Dunkelgrau-Anthrazit.
Nicht nur das Wohnkonzept macht das Holzbauprojekt einzigartig, auch in Sachen Energieeffizienz ist der Gebäudekomplex als KfW40-Haus mit einer solarthermischen Anlage vorzeigbar. Mit der bewussten Wahl des verwendeten Rohstoffs werden in 3.700 m³ verbautem Holz ca. 3.700 t CO² gespeichert.
Eine Holzständerwand mit hinterlüfteter Holzfassade bildet die Konstruktion der Außenwand. Decken, Stützen sowie Unterzüge sind holzsichtig und aus Massiv-Brettschichtholz. Die Innenwände sind aus Massiv-Brettsperrholz. Die für das Konstruktionsholz verwendete Fichte stammt aus dem mittel- und nordeuropäischen Forst.
Für den Holzbau nicht außer Acht zu lassen ist der Brand- und Schallschutz. Hierfür wurden die notwendigen Wände mit Gipskarton verkleidet, was u. a. auch für die Elektro-Verlegung einfacher und kostengünstiger war.
Mit einer großzügig bemessenen 12‑cm-Schallschutzschüttung, Wärme- und Trittschalldämmung, einer Fußbodenheizung sowie schwimmendem Estrich und dem Bodenbelag ist der Fußbodenaufbau mit 25 cm bemessen und dient gleichzeitig als Installationsebene. Alle Flure und Wohnräume sind mit Parkettboden ausgestattet. Auskragende Deckenscheiben dienen straßenseitig als Holzbalkone. Auf der Giebel- und Hofseite befinden sich vorgestellte Stahlbalkone. Die außen liegenden Treppen und Verbindungsbrücken in den jeweiligen Gebäudelücken sind als unverkleideter Stahlbau ausgeführt und heben den Holzbau durch den optischen Kontrast besonders hervor. Auch beim Thema Aufzugsschächte wird das Konzept Holz durchgezogen: Beide Schächte wurden über sechs Geschosse in Holzbauweise aus Brettsperrholz-Elementen errichtet.
Unter Einhaltung der deutschen Normen und anerkannten Regeln der Technik wird sowohl der Brandschutz als auch der Schallschutz zu 100 % erfüllt. Um den Brandschutz zu gewährleisten, wurden alle sichtbaren Holzbauteile auf Abbrand berechnet. Das bedeutet: Die Holzelemente wurden im Material verstärkt, sodass der statisch benötigte Querschnitt, der das Gebäude vor dem Zusammensturz bewahrt, im Ernstfall nach 90 Minuten Brand immer noch vorhanden ist. Alle Cluster sind durch F30-Wände voneinander getrennt.
Durch die Lage an der Bahntrasse ist das Holzhaus hohen Schallschutzanforderungen ausgesetzt. Alle holzsichtigen Bauteile sind voneinander schallentkoppelt. Außerdem gewährleisten entkoppelte Vorsatzschalen an den Wänden den baulichen Schallschutz innen und außen. Der innen liegende Holz-Fahrstuhlschacht ist vom restlichen Gebäude komplett schall- und brandschutztechnisch isoliert.
Mit dem Anfang 2018 veröffentlichen Beschluss des Abgeordnetenhauses wurde eine Änderung der Berliner Bauordnung vollzogen und der Bau mehrgeschossiger Häuser aus Holz grundsätzlich erleichtert. Mit § 26 der Berliner Bauordnung wurde der neue Absatz 3 wie folgt ergänzt: „(3) Abweichend von Absatz 2 Satz 3 sind tragende oder aussteifende sowie raumabschließende Bauteile, die hochfeuerhemmend oder feuerbeständig sein müssen, in Holzbauweise zulässig, wenn die erforderliche Feuerwiderstandsfähigkeit gewährleistet wird.“ Nach Baden-Württemberg und Hamburg ist Berlin schon das dritte Bundesland, in dem das Bauen mit Holz vereinfacht wird.
Eine saubere Baustelle und geringer Baulärm? Bauen mit Holz bietet auf der Baustelle noch viele weitere Vorteile. Das modulare und serielle Bauen mit den im Werk vorgefertigten Holzbauteilen ermöglicht nicht nur eine schnelle Montage vor Ort, sondern auch die damit einhergehende schnelle Fertigstellung. Die daraus resultierende schnelle Nutzung sichert dem Bauherrn eine gute Wirtschaftlichkeit. Durch die vorgefertigten Bauteile ist die Fehlerquote geringer und ermöglicht eine saubere und planungsgetreue Vorleistung für Folge- und Ausbaugewerke. Die hohe Energieeffizienz und der geringe Wärmeverlust des Baustoffs wurden in den kalten Wintertagen besonders spürbar. Im Gegensatz zum gängigen Massivbau war das Arbeiten bei geringen Außentemperaturen innerhalb des Gebäudes schon in der Bauphase deutlich angenehmer.
Ökologisches und natürliches Bauen mit Holz gewinnt zwar zunehmend an Ansehen, ist jedoch noch nicht so erprobt. Speziell in Sachen Detailentwicklung ist der Holzbau noch in der Entwickungsphase. Um das modulare Bauen mit Holz zielgerecht zu ermöglichen, ist eine zeitintensive und präzise Vorplanung notwendig. Auch die Industrie muss sich auf die Wiederentdeckung des Materials einstellen und die benötigten Zulassungen und Zertifikate ihrer Produkte um das Thema Holzbau erweitern.
Das Projekt „Gemeinschaftswohnen im Wedding“ beweist, dass die „Berliner Mischung“ unter einem Dach auch an einem urbanen Standort auf einem ungewöhnlichen Baufeld möglich ist. Eine flächen- und ressourcenschonende Grundstücksausnutzung wird in Großstädten zum immer wichtigeren Faktor. Schneller gewachsen als andere Neubauten, hebt sich der Holzbau deutlich von den gewohnten Massivbauten ab und bietet Nutzern ein völlig neues Raumgefühl.
Die Autoren
Olaf Schäfer & Philipp Wenninger
Wir sind die schäferwenningerprojekt GmbH, und unsere Leidenschaft ist der Holzbau! Mit Sitz im Süden Berlins ist unser Architekten- und Ingenieurbüro mit rund 40 Mitarbeitern spezialisiert auf die Generalplanung von privaten und gemeinnützigen Bauvorhaben. Unter der Leitung von Bauingenieur Olaf Schäfer und Bau- und Wirtschaftsingenieur Philipp Wenninger fokussieren wir uns auf Planung, Bauleitung und Projektleitung im Wohnungs‑, Gewerbe- und Industriesektor und bauen energieeffiziente, altersgerechte und barrierefreie Wohnhäuser, Stadtquartiere, Hotels und soziale Einrichtungen. Unser Ziel ist es, nachhaltige und kostenoptimierte Gebäude zu schaffen, in denen Menschen
sich wohlfühlen, ob bei der Arbeit oder zu Hause.
Als erster Gewinner des Berliner Holzbaupreises 2019 in der Kategorie Neubau und einer Anerkennung in der gleichnamigen Kategorie beim Deutschen Holzbaupreis 2019 konnten wir mit dem Projekt Lynarstraße einen Meilenstein für zukünftigen Holzprojekte setzen. Zurzeit errichten wir drei Mehrfamilienhäuser aus Holz in Blankenfelde-Mahlow, und weitere, großartige Holzprojekte befinden sich bereits in Planung.
swprojekt.de