Städtebau & Quartiersentwicklung
Einzelhandel und Wohnen: Gut gemischt und nachverdichtet
Text: Sabine Slapa & Jan Schultheiß | Foto (Header): © DIE RAUMPLANER
In vielen Städten besteht ein Mangel an Wohnraum. Meist fehlen für neue Gebäude aber die Flächen oder diese sind durch andere Nutzungen wie dem Einzelhandel belegt. Eine Aktivierung dieser Flächen nimmt viel Zeit in Anspruch und ist meist aufwendig – lohnt sich aber!
Auszug aus:
QUARTIER
Ausgabe 1.2018
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Im Kontext des Leitbilds der europäischen Stadt, die sich durch eine soziale und funktionale Mischung in einem kompakten Siedlungskörper auszeichnet, gilt das Ziel: Innenentwicklung vor Außenentwicklung. Doch dieser hohe, wenn auch richtige Anspruch ist vielerorts nicht immer zu realisieren. Auf den ersten Blick erscheint es sogar einfacher, Flächen in Außenstadtrandlagen zu aktivieren, um neue Stadtquartiere zu errichten. Auf den zweiten Blick ist dem jedoch nicht so. Diese Flächen sind meist nicht erschlossen oder es fehlt das Baurecht. Die innerstädtischen Lagen sind meist erschlossen und die Flächen bauplanungsrechtlich gesichert. Hier geht es „nur“ noch um die Integration in den Bestand. Doch Innenentwicklung hat Auswirkungen auf die Bestandsquartiere: So müssen die Infrastrukturen gegebenenfalls angepasst und Flächen neuen Nutzungen zugeführt werden. Diese Veränderungen führen bei der Bestandsbewohnerschaft oftmals zu Ängsten und Sorgen.
Nachverdichtung bedeutet die Weiterentwicklung bestehender Siedlungsstrukturen mit dem Ziel, durch Neubauaktivitäten in Bestandsgebieten Wohnraum zu schaffen. Dies kann durch Aufstockung, Anbauten, Dachausbau und Ergänzungsbauten erfolgen. Wird in kleinteiligen Gewerbe- oder Mischgebieten Wohnraum durch Umwandlung geschaffen, handelt es sich genau genommen zwar nicht um eine räumliche Verdichtung, aber bei einer reinen Betrachtung des Wohnraumangebots kann auch hier von einer Nachverdichtung gesprochen werden. Die Nutzung kleinteiliger Potenziale zur Deckung kurzfristiger Bedarfe ist wesentlich einfacher als die Errichtung größerer Ergänzungsbauten, bei denen die Gefahr besteht, den Charakter der Bestandsquartiere stark zu beeinträchtigen. Die Eigentumsverhältnisse spielen bei der Identifikation und Aktivierung von Nachverdichtungspotenzialen eine große Rolle. Handelt es sich um kommunale Wohnungsbaugesellschaften, kann die öffentliche Hand, in Abhängigkeit von den Regelwerken der Länder, auf diesen Flächen die Art des zu schaffenden Wohnraums steuern.
Integrierte Stadtentwicklung – Leitlinien des Wohnungsbaus
Nachverdichtung bedeutet integrierte Stadtentwicklung und kann für Bestandsquartiere mit einer Aufwertung verbunden sein. Städtebauliche Mängel können beseitigt, bestehende räumliche Qualitäten verbessert und Freiflächen ökologisch und gestalterisch optimiert werden. Damit dies gelingen kann, müssen Nachhaltigkeitsaspekte berücksichtigt und ökonomische, soziale, kulturelle sowie ökologische Entwicklungen als Einheit betrachtet werden. Es geht um die Sicherung und Schaffung lebendiger Quartiere mit der erforderlichen sozialen und kulturellen Infrastruktur und um erreichbare Quartiere (Mobilität) mit entsprechenden Strukturen für die Nahversorgung. Solche vielschichtigen und stabilen Quartiersstrukturen können nur im Dialog mit allen relevanten Akteuren entstehen.
Zur Erläuterung einer integrierten Nachverdichtung dient eine modellhafte Herangehensweise in einem Quartier im Berliner Bezirk Pankow. Dabei handelt es sich um eine aus Plattenbauten der 1960er- und 1970er-Jahre bestehende Siedlung mit einem sehr hohen Anteil an Freiflächen. Im Rahmen des Vorhabens „Wohnen an der Michelangelostraße“ sollen auf einer für eine Stadtautobahn vorgesehenen Vorhaltefläche 1.500 Wohneinheiten und weitere Nutzungen entstehen.
Um Ideen für eine mögliche Bebauung der freien Flächen zu sammeln, wurde ein städtebaulicher Ideenwettbewerb durchgeführt. Das Wettbewerbsergebnis wurde in ein städtebauliches Konzept überführt. Auch wenn es im Planungsprozess vereinzelt Informationsveranstaltungen gab, konnte hier nicht von einer aktiven Einbindung der Bestandsbewohnerschaft gesprochen werden. Viele der Bewohner an der Michelangelostraße leben seit Jahrzehnten im Quartier, teilweise waren sie Erstmieter. Die Veränderungen, die die Nachverdichtung mit sich bringt, nehmen viele Bürger als Bedrohung wahr: Wird mein Blick aus meinem Küchenfenster ins Grüne verbaut? Werde ich meinen Parkplatz vor der Haustür verlieren? Fragen wie diese beschäftigen die Bürger und müssen ernst genommen werden. Seit September 2017 wurde mit Vertretern der interessierten Bürgerschaft im Rahmen eines Runden Tisches darüber diskutiert, welche Aspekte bei der Planung des künftigen Quartiers mit Bezug auf Freiraumqualität, Verkehrsaspekte und soziale Infrastruktur beachtet werden sollen. Diese werden als Leitlinien bei Entscheidungen im weiteren Planungsprozess und bei der späteren Umsetzung maßgeblich sein. Darauf aufbauend fanden zwei Standortwerkstätten statt, bei denen die Anwohner ihre Ideen für ein nachverdichtetes Quartier in ein Modell einbringen und verorten konnten und die verschiedenen Interessen und Anforderungen aktiv aushandeln mussten. Die Ergebnisse dienen den Architekten und Planern als Grundlage für die Überarbeitung des städtebaulichen Entwurfs. Alle erforderlichen Teilschritte waren im Planungsprozess transparent dargestellt, sodass eine aktive Mitwirkung möglich war, um Akzeptanz für die Nachverdichtung und letztendlich für das gemeinsam erarbeitete Ergebnis zu schaffen. Dieses Beispiel zeigt, dass Nachverdichtung nicht nur personelle und finanzielle Ressourcen erfordert, sondern auch viel Zeit – selbst wenn die Wohnungsknappheit schnelles Handeln verlangt.
Kooperative Planungsbegleitung
Bei der Planungsbegleitung geht es darum, alle relevanten Fachämter und Fachbereiche sowie die Bürger frühzeitig einzubinden, um Verständnis für den Prozess zu erzielen und Synergien bei bestehenden Flächenkonkurrenzen zu entwickeln. Ganz bewusst wird nicht von der „Planungsbeteiligung“ gesprochen – diese ist bauplanungsrechtlich festgelegt und erfordert sowohl die verpflichtende Einbindung der Träger öffentlicher Belange, als auch der Öffentlichkeit gemäß § 3 Baugesetzbuch. Zwar kann eine Fläche nur einmal vergeben werden, doch über Mehrfachnutzungen können Potenziale im Rahmen einer sogenannten „Multicodierung“ intensiv genutzt werden: Eine Schule oder Einzelhandel im Erdgeschossbereich und Wohnen in den oberen Etagen. Diese multifunktionale Nutzung wird bei Wohnungsneubauvorhaben bereits erprobt und ist fast schon zu einem Standard geworden.
Koppelung von Einzelhandel und Wohnen
In vielen Städten liegt bereits eine gute bis sehr gute Ausstattung mit Verkaufsflächen vor, vielerorts sind bereits sogar Sättigungs- und Verdrängungstendenzen zu verzeichnen. Ziele sind die Stärkung der integrierten Nahversorgung im Stadtteil auf kurzen Wegen unter Nutzung der polyzentralen Strukturen und der städtebaulichen Identitäten. Stadt- und Handelsentwicklung bzw. -struktur sind schon immer untrennbar miteinander verknüpft und heute gleichermaßen in einem grundlegenden Wandel begriffen, insbesondere durch demografische Veränderungen und die Digitalisierung des Handels. Attraktive Lösungen mit integrierten Nutzungen bieten städtebaulich und wirtschaftlich überzeugende Antworten auf zentrale, stadtentwicklungsrelevante Fragen: Sie befördern die Urbanität und schaffen an zentralen Lagen vielfältig nutzbare, gut erreichbare öffentliche Räume mit hoher Aufenthaltsqualität und eigener Identität. Gleichzeitig können sie die Grundstückspotenziale ausschöpfen, den Wohnungsmarkt erweitern und erforderliche Renditen generieren. Der fehlende Wohnraum kann und sollte auch ein Thema des Einzelhandels sein. Ein Wandel des Gesprächsklimas gegenüber integrierten Einzelhandels- und Wohnprojekten ist wünschenswert und hat oftmals bereits stattgefunden, um die wenigen verfügbaren Flächen optimiert zu nutzen. Eine besondere Herausforderung besteht darin, die unterschiedlichen Bedarfe bzw. Ansprüche im Kontext der wachsenden Stadt und des Wohnraumbedarfs zusammenzuführen. So benötigt der Handel bessere, zum Teil auch größere Flächen, um die Anforderungen z. B. beim Thema Barrierearmut zu erfüllen.
Eingeschossige Supermärkte sind angesichts der Nachfrage auf dem Wohnungsmarkt vielerorts nicht mehr zeitgemäß. Für Berlin ergibt sich laut Hochrechnungen an über 300 eingeschossigen Einzelhandelsstandorten ein fünfstelliges Wohnungsflächenpotenzial, so Herr Busch-Peterson, Hauptgeschäftsführer des Handelsverbands Berlin-Brandenburg e. V., beim Supermarktgipfel der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen. Es lohnt sich also, den Dialog gemeinsam fortzusetzen und Synergien zu nutzen. Neben der Schaffung von Wohnraum ist das Thema der Stadtreparatur von Bedeutung: An eingeschossigen Einzelhandelsstandorten können mit multifunktionalen Geschäftsgebäuden attraktive Zentren und öffentliche Räume entstehen. Die wirtschaftlichen Vorteile steigender Mietumsätze und Verkaufserlöse sind oft starke – und immer stärker werdende – Argumente für solche Projekte. So sind inzwischen auch mehrgeschossige, mischgenutzte Projekte vielerorts wirtschaftlich tragfähig.
Generell sind viele Vertreter der Lebensmittel-Filialunternehmen bereit, Wohnungen zu bauen, sofern sie Eigentümer und nicht Mieter sind – und bauen dann allein oder mit einem Investitionspartner an ihrer Seite. Andere ziehen als Mieter in neue mehrgeschossige Wohn- und Geschäftshäuser ein. Für viele Vertreter sind solche Mischnutzungen längst kein Neuland mehr. Sie sind seit Jahren gefordert, auf einem städtebaulichen Maßstab zu agieren, um wettbewerbsfähig zu sein – ob bei der Koppelung von Einzelhandel im Erdgeschoss und darüber liegenden öffentlichen Gesundheits- und Sporteinrichtungen oder Wohnungen, ob bei der Sanierung von Brachflächen, der Verkehrserschließung, der Realisierung von Denkmalschutzprojekten oder besonderen Fassadengestaltungen.
Unternehmen, die selbst bauen, wünschen sich bei Genehmigungsverfahren oftmals eine bessere Unterstützung. Handelt es sich um einen Umbau, muss der Marktbetreiber in der Bauphase Umsatzverluste auffangen, was nicht immer durch andere Filialen gewährleistet werden kann und manche Betreiber von der Umsetzung solcher Maßnahmen abhält. Für Unternehmen wäre es folglich ein Anreiz, für die Umbauphase eine Ersatzimmobilie zur Verfügung gestellt zu bekommen, um Umsatzeinbußen zu kompensieren. Auch notwendige technische Lösungen können einen Umbau erschweren. Demgegenüber ist ein Neubau oftmals einfacher und kostengünstiger als der Ausbau einstöckiger Bestandsimmobilien. Auch die unterschiedlichen Laufzeitzyklen eines Einzelhandelsstandorts gegenüber eines Wohngebäudes erfordern eine besondere Aufmerksamkeit, denn in der Regel beträgt die Lebensdauer eines Marktes bis zu einem grundlegenden Umbau oder sogar Abriss nur 15 bis 20 Jahre, während ein Wohngebäude deutlich länger genutzt wird. Die Renditezyklen müssen entsprechend beachtet werden.
So empfehlenswert die Kombination von Einzelhandel mit anderen Nutzungen ist, muss auch der Flexibilitätsverlust, der mit Kostensteigerungen und mit größeren baulichen Anforderungen einhergeht, akzeptiert werden. Ferner sind Lebensmittel-Filialunternehmen in erster Linie keine (Wohnungs-)Vermieter. Somit ist es für die Unternehmen erforderlich, eine neue immobilienwirtschaftliche Expertise aufzubauen und neue Konzepte zu entwickeln. Generell gilt, dass die Konzeptentwicklung für eine Mischnutzung gemeinsam mit den Vermietern erfolgen sollte, da insbesondere im Vertrieb der Flächen Probleme und Konflikte auftreten können. Nicht immer sind die Nutzungen kompatibel und störungsfrei, z. B. bezüglich Lärm- und Geruchsemissionen. Entscheidend ist auch die Struktur beim Wohnungsbau. Bei reinen Eigentumswohnungen sind die Ansprüche der Eigentümergemeinschaften sehr hoch, und Störungen und Konkurrenzen der unterschiedlichen Nutzungen können noch stärker als Konfliktfelder wahrgenommen werden. Für die Entwicklung zukunftsfähiger, multifunktionaler Einzelhandelsstandorte sind flexible Rahmenbedingungen erforderlich, die die Bedarfe der Unternehmen beachten, keine grundsätzlichen Versagungen nach sich ziehen und immer wieder auf sich verändernde Anforderungen an den Handel reagieren können. Die Gesetzgebung mit dem § 11 (3) Baunutzungsverordnung mit den dort verankerten Anforderungen wird von vielen Entwicklern bei der Umsetzung als Hindernis gesehen.
Die Vorteile von Nutzungsmischung und Verdichtung stehen außer Frage: Mittlerweile lassen sich sehr viele Nutzungen profitabel entwickeln. Die Qualität der Projekte als Reaktion auf die bestehenden Megatrends ist hier von immer größerer Bedeutung. Um das gemeinsame Ziel einer Mischnutzung im Sinne einer Zentrenfunktion zu erreichen, sollten sich alle Beteiligten regelmäßig austauschen, unterschiedliche Interessenslagen ausloten und mögliche Konflikte lösen. Vor dem Hintergrund auslaufender bzw. zu verlängernder Mietverträge müssen die Zeitfenster genutzt werden, um gemeinsam integrierte Nahversorgungsstandorte im Sinne einer Multifunktionalität zu entwickeln.
Die Autoren
Dipl.-Ing. Sabine Slapa
Die Stadt- und Regionalplanerin ist die geschäftsführende Gesellschafterin des Berliner Planungsbüros slapa & die raumplaner gmbh, das sich auf Projekte der Stadt- und Regionalentwicklung einschließlich der dazugehörigen Steuerungs‑, Moderations- und Managementaufgaben spezialisiert hat.
Master of Urban Planning Jan Schultheiß
ist im Büro die raumplaner verantwortlich für Projekte der strategischen Stadtentwicklungsplanung. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen unter anderem in der Durchführung von Beteiligungsprozessen im Rahmen der Nachverdichtung und Grünraumplanung.
www.die-raumplaner.de