Realisierte Objekte
Dezentrale Versorgungskonzepte aus Sonne und Abwasser: Energie-Joker im urbanen Raum
Autorin: Nadine Busse | Foto (Header): © PICKSELLS
Die zentrale Wärmepumpe des Kölner Quartiers LÜCK nutzt Abwasserwärme als Energiequelle. Das Projekt zeigt das nahezu unerschöpfliche Potenzial in deutschen Städten und die Skalierbarkeit des Konzepts – aber auch, mit welchen Herausforderungen die Hebung dieses bislang vernachlässigten Energieschatzes verbunden ist.
Auszug aus:
QUARTIER
Ausgabe 6.2024
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Inhalte des Beitrags
- Ein Trumpf für die Wärmewende
- Urbanes Energie-Recycling
- Ganzjährig geeignete Temperaturen
- Photovoltaikstrom fürs Heizsystem
- Power-to-Heat-Anlage für Spitzenlast und -erzeugung
- Trinkwasserbereitung entkoppelt
- Starke lokale Partner unverzichtbar
- Umweltbundesamt fordert besseren Informationsfluss
- Verbindung zum Kanalnetz als Herausforderung
- Auch im Bestand interessant
„Lokale Potenziale nutzen, um Energieerzeugung und -verbrauch bestmöglich zusammenbringen, das ist der Kern dezentraler Versorgungskonzepte“, erklärt Dr. Sarah Debor. Sie verantwortet als Geschäftsfeldleiterin bei der naturstrom AG den Bereich Urbanes Wohnen und Gewerbe, der zu klimafreundlichen Energielösungen berät, sie plant, umsetzt und betreibt. Auch im Kölner Wohnquartier LÜCK sind Debor und ihr Team für das Energiekonzept zuständig. Hier nutzen sie eine urban reichlich vorhandene, aber bislang jedoch kaum erschlossene erneuerbare Energiequelle: Abwasser.
Dieses fließt – treffenderweise unter der Äußeren Kanalstraße – nur wenige Meter außerhalb des ehemaligen Fabrikgeländes in Ehrenfeld. Dort errichtet die wvm Gruppe seit 2023 vier Mehrparteienhäuser für 216 Wohneinheiten und eine Großtagespflege. Alle über naturstrom vollständig fossilfrei beheizt, dank Abwasser und Photovoltaik.
Auf einer Länge von 120 m sind Wärmetauscher der Firma UHRIG in den bestehenden städtischen Kanal eingebaut worden. Diese entziehen dem vorbeirauschenden Abwasser Wärmeenergie. Über vorsätzlich nicht gedämmte Rohrleitungen – um auch dem umschließenden Erdreich Wärme zu entziehen – wird diese in die Heizzentrale des Quartiers transportiert. Dort hebt eine Großwärmepumpe mit 87 kW elektrischer Eingangs- und 352 kW thermischer Ausgangsleistung die Temperatur des Heizwassers an. Dank des hohen Baustandards nach KfW 55 und des somit niedrigen Energiebedarfs von rund 50 kWh/m² reichen im lokalen Wärmenetz bereits 40°C aus, was ein effizientes Heizen ermöglicht. Ein 20 m³ umfassender Pufferspeicher stellt sicher, dass die Energie gleichmäßig gewonnen und langfristig gespeichert werden kann.
Die innovative Energiequelle Abwasser bietet viele Vorteile – insbesondere im urbanen Raum. Denn die Menge an bislang ungenutzter Restenergie ist gerade in Städten, aber auch nahe industrieller Zentren, enorm. Vom Dusch- und Nudelwasser bis zu Abflüssen aus Gewerbegebieten: In vielen Fällen wurde bereits Energie aufgewendet, um Wasser zu erhitzen. Bislang verpufft diese zumeist und landet ohne weiteren Nutzen in Abfluss, Klärwerk und schließlich Gewässern. Dabei könnte sie nahezu problemlos weitergenutzt werden.
Angesichts der rund 600.000 km Kanalinfrastruktur in Deutschland zeigt sich, welche Möglichkeiten sich bieten. Auch wenn nur ein relativ kleiner Teil der Kanäle die Voraussetzungen zur Abwasserwärmegewinnung – wie etwa eine Mindestbreite von 80cm und einen Trockenwetterabfluss von 10 l/s – erfüllt, bleiben zehntausende Kilometer übrig.
Ganzjährig geeignete Temperaturen
Den Vergleich mit anderen Wärmequellen für angeschlossene Wärmepumpen muss Abwasser nicht fürchten, ganz im Gegenteil: Mit 10 bis 12 °C im Winter liegen die Mittelwerte i.d.R. deutlich über jenen für Umgebungsluft und oftmals auch über denen für oberflächennahe Geothermie. Bei Letzterer kommt im dicht bebauten Raum erschwerend hinzu, dass Bohrungen aus verschiedensten Gründen kaum möglich oder unwirtschaftlich sind. Abwasserkanäle hingegen strotzen gerade dort nur so von besagter Restenergie und sind vielerorts relativ leicht zugänglich – wenn die lokalen Stadtentwässerungsbetriebe sich kooperativ zeigen. Dazu später mehr. Langfristig wohl besonders interessant: Auch im Sommer überschreiten die Temperaturen im Kanal nur selten 20 °C, sodass die Kreisläufe umgedreht und zur Kühlung der angeschlossenen Gebäude genutzt werden können.
Photovoltaikstrom fürs Heizsystem
LÜCK nutzt jedoch nicht nur Abwasserenergie. Photovoltaikanlagen auf den Dächern der Wohnhäuser liefern einen Teil des benötigten Stroms der Heizzentrale. Module mit einer Gesamtleistung von 99 kW peak – knapp unter der bei Planung geltenden Direktvermarktungsgrenze – liefern rund 91.000 kWh im Jahr. Etwa ein Fünftel davon findet unmittelbar in der Heizzentrale Verwendung. Insgesamt können 10% des von der zentralen Wärmepumpe benötigten Stroms direkt vor Ort erzeugt werden. Angesichts der asynchronen Erzeugungs- und Bedarfskurven von Photovoltaik und Wärmebedarf ein respektabler Wert. Für die Reststrommenge liefert naturstrom als Betreiber des Heizsystems Ökostrom aus hiesigen Windenergie-, Photovoltaik- und Wasserkraftanlagen über das öffentliche Netz. Eine 100% erneuerbare Wärmeversorgung ist in LÜCK so allzeit sichergestellt.
Power-to-Heat-Anlage für Spitzenlast und -erzeugung
Für besondere Flexibilität sorgt eine Power-to-Heat-Anlage mit 250kW thermischer Ausgangsleistung, die in das Heizsystem eingebunden ist. Diese hat gleich mehrere Funktionen: Zum Ersten deckt sie Verbrauchsspitzen der Haushalte durch schnelle Wärmebereitstellung, sollte die Wärmepumpe den Bedarf nicht rasch genug bedienen können.
Zum Zweiten kann sie aber auch Erzeugungsspitzen der Photovoltaikanlage nutzen, um den angeschlossenen Wärmepufferspeicher zu „überladen“: Bis zu 20 m³ Heizwasser können so auch auf bis zu 70 °C erhitzt werden. Da der Speicher gedämmt und in der Erde eingelassen ist, lässt sich die Energie so auch über längere Zeiträume lagern. „Mit dem Speicher und seiner flexiblen Fahrweise können wir uns die wechselnden Erzeugungskurven der Erneuerbaren ideal zunutze machen“, erläutert Debor. Zum Dritten soll die Flexibilität perspektivisch auch die schwankenden Strombörsenpreise – insbesondere Zeiten mit niedrigen oder gar negativen Preisen – ausnutzen, um die Wärmebereitstellung besonders effizient zu gestalten. Das Energiekonzept ist so schon heute bereit für das kommende klimaneutrale Stromsystem mit seiner charakteristisch volatilen Stromerzeugung.
Trinkwasserbereitung entkoppelt
Im Heizungsnetz stellt LÜCK nur lauwarme Temperaturen bereit. Durch den Einsatz von dezentralen Wohnungsstationen genügt dies bereits, um die Wohnungen mit Heizungswärme und Trinkwarmwasser zu versorgen. Das Warmwasser wird nicht wie üblich zentral bereitet, wofür hohe Temperaturen zur Vermeidung von Legionellen notwendig wären. Stattdessen nutzen die Wohnungsstationen den Heizungsvorlauf, um kaltes Trinkwasser erst vorzuwärmen und bei Bedarf elektrisch nachzuerhitzen. Somit genügen moderate Temperaturen im Heizungsnetz, die die Wärmepumpe bei einer hohen Jahresarbeitszahl problemlos und effizient bereitstellen kann. Die für das Heizsystem nötige Mess- und Regulierungstechnik in der Heizzentrale verantwortet naturstrom. Diese wird fortlaufend verbessert und lernt anhand des Nutzungsverhaltens der Bewohner, um noch effizienter zu werden.
Starke lokale Partner unverzichtbar
„Ohne die Kooperation der Stadtentwässerungsbetriebe (StEB) Köln wäre LÜCKs Energiekonzept so nicht möglich gewesen“, ist Debor überzeugt. „Bei ihnen sind wir mit unserem Plan auf offene Ohren gestoßen.“ Tatsächlich sind die StEB Köln Vorreiter in Sachen Abwasserwärme-Nutzung und diesbezüglich weiter als andere. Denn obwohl die Potenziale in Städten deutschlandweit unbestritten sind, scheuen andernorts viele Entwässerungsbetriebe vor Projekten zurück.
Als ein Hinderungsgrund wird oft der Restwärmebedarf für den Klärprozess angeführt. Das Abwasser dürfe durch die Wärmegewinnung nicht zu sehr abgekühlt werden, da die Kläranlagen zur Wiederaufbereitung eine gewisse Mindesttemperatur benötigen. Mit diesem Verweis kategorisch die Energiegewinnung zu verhindern greift jedoch zu kurz. Es braucht vielmehr Stadtentwässerungsbetriebe, die – wie in Köln – die Potenzialgebiete analysieren, Spielräume ausloten und transparent machen. Die StEB Köln sprechen diesbezüglich von 7% ihres Kanalsystems, die vollumfänglich zur Abwasserwärmenutzung erschlossen werden können. Das gibt den handelnden Unternehmen klare Orientierung.
Umweltbundesamt fordert besseren Informationsfluss
Neben dem begrenzten Wissen um die Möglichkeiten der Abwasserwärme sieht das Umweltbundesamt vor allem den mangelnden Zugang zu den relevanten Informationen als zentrales Hemmnis für den Durchbruch der Wärmeinnnovation in Deutschland. In einem Ad-hoc-Papier zu den Potenzialen empfiehlt es, einen Informationsanspruch für Dritte einzuräumen, der über bisherige Vorgaben hinausgeht. Die wesentliche Regelungskompetenz diesbezüglich liege bei den Bundesländern. Doch auch Kommunen und der Bund seien in der Pflicht. Was konkret nötig sei und wie ein Markthochlauf gelingen könnte, untersuchte ein Bundestagsausschuss im Juli 2024, an dem auch UHRIG Vertreter und das Mitglied des Vorstands der StEB Köln, Ulrike Franzke, teilnahmen.
Verbindung zum Kanalnetz als Herausforderung
Eine weitere Herausforderung abseits der nötigen Informationen bietet die städtische Topografie. Im einfachsten Falle liegt das Baugrundstück, auf dem Abwasserwärme genutzt werden soll, in unmittelbarer Nähe – bestenfalls anliegend – zum Kanal. Die Realität sieht allerdings oft komplizierter aus – so auch bei LÜCK:
Nur 50 m von der entstehenden Energiezentrale des Quartiers entfernt, verläuft das anzuschließende Kanalnetz. Die direkte Verbindung schneidet jedoch zwei Nachbargrundstücke. „Wir wussten, wenn auch nur mit einem der beiden keine Einigung zustande kommt, müssen wir eine neue Energiequelle für das Quartier finden“, erinnert sich Debor. Sie und ihr Team loten mittlerweile bei fast allen ihrer urbanen Wärmeprojekte die Möglichkeit zur Abwasserwärmenutzung aus. Überkomplexe Besitzverhältnisse oder zu lange Zugangswege zum betreffenden Kanal machen eine Umsetzung ihrer Erfahrung nach oft unwirtschaftlich oder unmöglich.
In Ehrenfeld gelang es schließlich, dass Projektentwickler wvm und die Grundstückseigentümer sich bezüglich einer Dienstbarkeits-Vereinbarung und Last-Inkaufnahme einig wurden. Ein Glück für das Vorzeige-Projekt.
Ohne Weiteres lässt sich der urbane Abwasserwärme-Schatz also freilich nicht heben. Verallgemeinerungen sind schwierig, an Analysen für jedes Einzelprojekt führt auch mit Potenzialkarten der lokalen Stadtentwässerungsbetriebe kein Weg vorbei.
Fest steht: Bei potenziellen Projekten spielt vor allem die Größenordnung eine wichtige Rolle. Je mehr Haushalte oder Verbraucher angeschlossen werden können, desto eher lohnt sich der Planungs- und Umsetzungsaufwand. Hierbei muss sich keineswegs auf den Neubau beschränkt werden, auch Bestandsgebäude, die den urbanen Raum prägen, sind geeignet. Abwasserwärme könnte im Zuge der Elektrifizierung des Wärmesektors hier sogar ein besonderer Stellenwert zukommen. Die Jahresarbeitszahl der angeschlossenen Wärmepumpen liegt oftmals
merklich über vergleichbaren Luftwärmepumpen. Der Stand der individuellen Sanierung ist jedoch nach wie vor ein entscheidender Faktor. Die höhere Effizienz bzw. Temperatur der Umweltquelle Abwasser könnte teils aber von merklichem Vorteil im Bestand sein. Außerdem hat das Nutzungsverhalten einen erheblichen Einfluss auf die Effizienz des Heizsystems. Deshalb sollten Anwohner unbedingt über das richtige Heizen und Lüften informiert werden, um Potenziale auszuschöpfen.
Hinzukommen die erwähnten Flexibilisierungspotenziale nachhaltiger Abwasser-Energiekonzepte: Wärmepumpe, Power-to-Heat-Anlage und Pufferspeicher zusammen bieten wichtigen Spielraum für angepasste Wärmebereitstellung und eine flexible Fahrweise, die auf das zukünftige Stromsystem mit seiner volatilen Erzeugung und den schwankenden Preisen einzahlt. Mit der richtigen Planung können Quartiere wie in Ehrenfeld das Puzzle der urbanen Wärmewende sinnhaft ergänzen.
Für LÜCK liegt die anspruchsvolle Planungsphase des Energiekonzepts nun bereits zwei Jahre zurück. Seit Juni 2024 setzt naturstrom es mit seinen Partnern um. Mit der Einbringung der Wärmetauscher in den Kanal und dem Richtfest erreichte das Abwasser Quartier in Ehrenfeld im September 2024 zwei wesentliche Meilensteine. Die Großwärmepumpe soll im kommenden Frühjahr in Betrieb gehen. Ende 2025 sollen dann die ersten Bewohner ihre Wohnungen an der Subbelrather Straße beziehen und dank Abwasserwärme klimafreundlich und zukunftsfähig heizen.
Die Autorin
Nadine Busse
Nadine Busse verantwortet als Projektleiterin im Geschäftsfeld Urbanes Wohnen und Gewerbe der naturstrom AG, Deutschlands größtem unabhängigen Ökostrom-Anbieter, das Energiekonzept des Quartiers LÜCK in Köln-Ehrenfeld.
www.naturstrom.de/immobilienwirtschaft