Abbruch alte Stadtbibliothek Augsburg: Alte Bauteile schreiben neue Geschichten

Abbruch alte Stadtbibliothek Augsburg: Alte Bauteile schreiben neue Geschichten

Energie, Technik & Baustoffe

Abbruch alte Stadtbibliothek Augsburg: Alte Bauteile schreiben neue Geschichten

Text: Sandra Hoffmann | Foto (Header): © STBAA/MATTHIAS LEO

Beim Abbruch der alten Stadtbibliothek ging das Staatliche Bauamt Augsburg neue Wege und brach die Immobilie nicht einfach ab, sondern ließ in einem Pilotprojekt mit der Hochschule Augsburg und Concular Bauteile registrieren und online verkaufen. Ein Rückbaupionier, der im September 2023 den Bayerischen Klimaschutzpreis gewann.

Auszug aus:

Früher hing der gläserne Schaukasten am Gebäude und stellte die Neuerscheinungen der Augsburger Stadtbücherei aus. Heute ist die Bücherei verschwunden, aber der Schaukasten ist noch da – sozusagen: Er hat im Innenhof einer Ulmer Wohnsiedlung neues Quartier bezogen, als öffentlicher Bücherschrank. Auch viele seiner „Ex-Kollegen“ sind auf Wanderschaft gegangen: So tun nun fast alle Türblätter inklusive Türdrücker und Einsteckbänder, ein behindertengerechtes Waschbecken sowie Stützbügel für ein barrierefreies WC der einstigen Bibliothek neuen Dienst in einem Hotel in Norddeutschland. Und während ein Augsburger Musiker Heizkörper, zwei Waschbecken, ein WC und alle Kabelkanäle für sein Tonstudio und seinen Proberaum gebrauchen konnte, reiste Familie Vogl aus der Oberpfalz an, um die außen liegende Fluchttreppe des einstigen Lesetempels ins neue Heim zu holen: Aufgrund einer Aufstockung war beim Vogl’schen Einfamilienhaus der Posten einer eben solchen neu geschaffen worden. Der erfahrene Augsburger Kandidat bekam den Job.

Das ist nur ein Auszug der Geschichten, die der Rückbau einer kleinen Augsburger „Ikone“ schrieb. In den späten 1950er-Jahren hatte die alte Stadtbibliothek das Licht der Welt erblickt, und bis 2009 gaben sich hier die Leseratten der Fuggerstadt die Klinken in die Hand. Dann zog die Stadtbücherei in eine neue Immobilie, und der verwaiste Altbau wurde später als Interimsstandort des gegenüberliegenden Gymnasiums genutzt. Doch Ende 2022 war auch damit Schluss, denn die benachbarte Staatsbibliothek braucht Platz: Der 1893 errichtete, denkmalgeschützte Bau platzt aus allen Nähten. Die Staatsbibliothek hätte sich wegen der Stadtbibliothek kaum erweitern lassen, da das Gelände zu klein war. Der Nachkriegsbau selbst war zu klein und eine Aufstockung wäre statisch nicht möglich gewesen. Zudem hatte sich der marode Bestand nicht zur Unterbringung der sensiblen Bücher geeignet. Die Wände waren feucht, das Dach kaputt – von der energetischen Performance insgesamt ganz zu Schweigen. So traf die Staatsbauverwaltung Bayerns schon vor rund einem Jahrzehnt die Entscheidung, die kleine Bücherei für einen Anbau der großen Staatsbibliothek zu opfern.

400 Stücke Stadtbücherei …

Die alte Stadtbücherei war ein typisches Kind ihrer Zeit: Schnell und einfach in Ziegelbauweise errichtet mit einer Metallfassade im Erdgeschoss und Holzfenstern in den beiden oberen Stockwerken. Die Ausbaudetails entsprachen einem mittleren Standard – Fazit: Ganz normale Bauteile, die üblicherweise immer noch jeden Tag irgendwo abgerissen, entsorgt und zerschreddert werden. Genau so wollte Kathrin Fändrich, die damalige Leiterin des Bereichs Hochbau im Staatlichen Bauamt Augsburg, mit dem Abbruchgebäude nicht verfahren. Die Idee zu dem bayernweit ersten staatlichen Pilotprojekt zum zirkulären Bauen entstand in einer Kooperation zwischen Professorin Mikala Holme Samsøe von der Technischen Hochschule Augsburg und Baudirektorin Fändrich, die mit dem Staatlichen Bauamt Augsburg für das Vorhaben als Bauherrenvertretung auftrat. In dem Projekt „Architektur. Im Kreis“ ging es darum, den Bestandsbau zu erfassen und geeignete Bauteile für eine Wiederverwendung zu identifizieren. Diese sollten über Concular bzw. deren Online-Plattform für gebrauchte Bauteile verkauft werden. Das Ganze wurde als Semesteraufgabe für Studenten der Fakultät für Architektur und Bauwesen der Hochschule Augsburg formuliert. Sie mussten nicht nur die Bauteile vor Ort registrieren, sondern anschließend auch Entwürfe für einen Neubau anfertigen, indem sie wiederverwendbare Bauteile der Bibliothek mit weiteren, vor Ort gefundenen Materialien, die üblicherweise in hohen Mengen weggeworfen werden, kombinieren.

Nachdem Fändrich den Vertrag mit Concular als Makler geschlossen hatte, gingen 16 Studenten – von Concular begleitet – im November 2021 ans Werk. Sie vermaßen alle Bauteile des Bauwerks, sortierten sie nach Gebrauchsspuren und katalogisierten sie. Danach inventarisierten sie jene Elemente, die für eine Wiederverwendung geeignet waren. Generelles Ausschlusskriterium für die Vermarktung sind enthaltene Schadstoffe. „Die Bewertung des Bestands in puncto Schadstoffe war für unser Projekt kein Problem, denn ein entsprechendes Gutachten müssen wir für die öffentliche Abbruchausschreibung ohnehin aufstellen lassen. Auch das Abbruch-Leistungsverzeichnis hätte das beauftragte Architekturbüro in jedem Fall erstellt. So wurde es nur im Text auf die ‚neue‘ Situation angepasst“, erklärt Fändrich und fügt hinzu: „Anhand unseres Schadstoffgutachtens konnte Concular alles Unverkäufliche aussortieren. So ließ sich auch die Haftungsproblematik leicht klären, denn in den Verkauf gingen nur ‚saubere‘ Bauteile. Je mehr Bauteile wir veräußerten, desto weniger musste der Abbruchunternehmer abreißen und mitnehmen. Für ihn minimierte sich also die Arbeit, was in den einzelnen Positionen auch so vermerkt und abgerechnet wurde.“

1 | Architekturstudenten der Technischen Hochschule haben die für einen Verkauf geeigneten gebrauchten Bauteile dokumentiert, vermessen, fotografiert und registriert.
FOTO: STBAA/MATTHIAS LEO

3 | Es landeten z. B. zwei Waschbecken, ein WC, die Heizkörper sowie alle Kabelkanäle bei einem Augsburger Musiker, der seinen Proberaum neu ausbaute.
FOTO: STBAA/MATTHIAS LEO

… für den Warenkorb

Insgesamt waren es rund 370 Bauteile, die von der alten Stadtbibliothek vermarktbar waren, u. a. Türen, Fenster, Glasbausteine, Waschbecken, Heizkörper, aber auch Treppengeländer, Natursteinplatten und WCs [1]. Diese wurden nach augenscheinlichen Eigenschaften, wie z. B. Zustand und gestalterische Merkmale, und Dimensionen beschrieben, fotografiert und – sofern vorhanden – anhand von Produkt- und Herstellerangaben ergänzt. All diese Informationen erfassten die Studenten in der Concular-Software und stellten sie – gemeinsam mit Anmerkungen zu Ausbaumöglichkeiten – im Dezember 2021 online. Für die reine Registrierung brauchten sechs Studenten drei Tage. Die Preise legte Concular fest. Zudem kümmerte sich das Unternehmen um den Verkauf und die damit verbundene Abwicklung.

„Was nach Start des Online-Verkaufs folgte, hatte keiner von uns erwartet. Hatten wir anfangs viel Spott aushalten müssen, war die Nachfrage nach dem Projekt nun enorm – sowohl vonseiten kleiner Kommunen mit ähnlichen Vorhaben als auch von Architekturbüros bis hin zur Bayerischen Architektenkammer und der Bayerischen Ingenieurkammer-Bau. Alle wollten wissen, wie viele Bauteile wir tatsächlich veräußern“, erinnert sich Fändrich. Konkret wechselten von den rund 400 Bauteilen im Online-Katalog bis zwei Wochen vor Abriss 78 % den Besitzer. Zum Verkauf standen die „Stückchen Stadtbücherei“ dort rund ein halbes Jahr. Insgesamt 21 Interessenten sicherten sich gebrauchte Bauteile für unterschiedlichste neue Nutzungen, und auch in den eigenen Reihen fanden Hinterlassenschaften des einstigen Lesetempels Verwendung: Das Staatliche Bauamt ließ auf dem Campus der Technischen Hochschule Augsburg Leuchten der Bücherei in einen Seminarbau einbringen. Bevor schließlich tatsächlich die Bagger anrollten, veranstaltete das Staatliche Bauamt ein Abbruchfest. Auf der Recycling-Party mit den Studenten und Bürgern wurden weitere Bauteile versteigert bzw. verkauft In Summe fanden so mehr als 80 % der als wiederverwendbar identifizierten Bauteile den Start in ein neues Leben.

2 | Angaben zu den Dimensionen, Zustand und gestalterische Merkmale sowie Anmerkungen zu den Ausbaumöglichkeiten wurden direkt auf die digitale Plattform für wiederverwendbare Bauteile der Firma Concular hochgeladen.
FOTO: STBAA/MATTHIAS LEO

4 | Die Architekturstudenten entwickelten für das Projekt eine neue Entwurfsmethode, indem sie mit den gebrauchten Bauteilen Neues entwarfen. Ihre Entwurfsarbeiten wurden bei der Abrissparty in der Alten Stadtbücherei ausgestellt.
FOTO: STBAA/MATTHIAS LEO

Viele Stücke für die Grube

Im Herbst 2022 starteten die Vorarbeiten zum Abbruch des leergeräumten Altbaus. Dabei wurde er komplett vom Innenausbau bis zum blanken Rohbau entkernt. „Nach dem Abriss wurden etwa 60 % der rohen Gebäudesubstanz direkt auf dem Grundstück verkleinert und zur Verfüllung des ehemaligen Kellergeschosses genutzt bzw. zur Herstellung der Baustraße auf der künftigen Baustelle gelagert. „Damit hat ein Teil des Gebäudes das Areal nie verlassen – was viele Lkw-Ladungen von und zur Baustelle eingespart hat“, sagt die Baudirektorin. Das restliche Material hat der Abbruchunternehmer fachgerecht entsorgt – sofern sich das Material nicht als Zuschlagstoff im Straßenbau eignete.

Momentan finden auf dem nun leeren Gelände – von Archäologen begleitet – Tiefbaugrabungen satt. Der Anbau für die Staatsbibliothek soll dann Ende 2026 eröffnen. Wie aber sieht Fändrichs Fazit zum abgeschlossenen Recyclingprojekt aus? „Es war nicht so schwer, wie die Warnungen vorab von vielen Seiten befürchten ließen. Neben Energie und Ressourcen konnten wir mit dem Projekt auch finanzielle Mittel einsparen. Weniger durch die Einnahmen vom Verkauf der Bauteile, sondern vielmehr durch das Senken von Deponiekosten. Natürlich war von Vorteil, dass wir, als das Vorhaben Form annahm, noch recht am Anfang der Planung standen. So konnten wir den Abbruch noch gut koordinieren und auch unser externes Planungsteam zeitig über dieses ‚Add-on‘ informieren.“

Die Tatsache, dass der Recyclingpilot Kosten senkte, war haushaltärisch allerdings eine kleine Herausforderung, denn bei staatlichen Bauvorhaben gibt es nur einen sog. „Ausgabetitel“. Das sind vom Landtag genehmigte Kosten für Abbruch und Neubau. Mit dem Verkauf von Bauteilen hatte die Baudirektorin jedoch Einnahmen – allerdings keinen „Einnahmetitel“. „Wir dürften somit eigentlich keine Einnahmen machen. Das klingt etwas ‚schräg‘: Man spart Geld, darf es aber eigentlich nicht. Dem Steuerzahler wäre das kaum plausibel zu erklären, dass der Staat beim Abbruch nicht sparen darf. Wir haben das ‚Dilemma‘ gelöst, indem wir die Kosten für die Leistung durch Concular mit den Einnahmen verrechneten – sprich: Mit jedem verkauften Bauteil, wurde deren Beauftragung günstiger. Voilà.“ Der Gewinn durch den Augsburger Bauteileverkauf konnte die Concular-Leistungen verringern.

Da die Erfahrungen aus dem Augsburger Experiment auch in künftige Vorhaben einfließen sollen, hat das Team um Kathrin Fändrich auf Bitten des Bayerischen Staatsministeriums für Wohnen, Bau und Verkehr aus dem gesammelten Wissen einen „Werkzeugkasten“ mit Umsetzungsstrategien für künftige Abbrüche erstellt. Diese Toolbox dient allen anderen Staatlichen Bauämtern [2] als Hilfe und lässt sich je nach konkretem Bau- bzw. Abrissvorhaben vor Ort individuell anpassen und anreichern. „Es gibt schon Bauämter, die unser Vorhaben als Blaupause genutzt haben. Würzburg und Erlangen-Nürnberg etwa recyceln in konkreten Projekten nun ebenfalls. Genau das war unser Ziel“, sagt Fändrich. Zwar sei der Aufwand bei diesem neuen Thema nicht zu unterschätzen, würde sich jedoch bei einer flächendeckenden Anwendung bei Abbruchgebäuden des Freistaats und der damit verbundenen Systematisierung der Vorgänge deutlich vereinfachen. „Wünschenswert wäre ein breiteres Anbieterfeld, damit wir unserem Auftrag der Vergabe im Wettbewerb nachkommen können. Der Effekt in der Bevölkerung und bei unseren Beschäftigten ist immens und zeigt uns, dass ein zirkuläres Projekt, wie das der Stadtbibliothek, der einzig richtige Weg ist – wenn eine Nachnutzung und Modernisierung nicht realisierbar sind.“

Preiswürdiger Pilot

Für ihr Pilotprojekt haben das Staatliche Bauamt Augsburg und die Technische Hochschule Augsburg im September 2023 den Bayerischen Klimaschutzpreis erhalten. Aus dem Juryurteil heißt es u. a.: „Durch das gemeinsame Transferprojekt leben nun etliche Bauteile weiter, die sonst zu ‚Müll‘ deklariert worden wären. Dieses Vorgehen nennt man ‚Zirkuläres Bauen‘.“ Und für eben dieses plädierte Projektpartnerin Prof. Mikala Holme Samsøe anlässlich der Preisverleihung noch einmal eindringlich: „Es geht um nichts weniger, als die Neuausrichtung der Baubranche. Wir bewegen uns von einer expansiven zu einer reduktiven Moderne. Das stellt unseren Erneuerungsdrang und unsere Vorstellung von Ästhetik infrage. Lasst uns gegenseitig helfen, die mentalen und rechtlichen Schwellen aufzulösen, um endlich angemessen mit Material umzugehen.“

Sanierung und Erweiterung der Staatsbibliothek Augsburg
Der denkmalgeschützte Neobarockbau der Staatsbibliothek Augsburg bewahrt als staatliche Regionalbibliothek sowie Archiv- und Forschungsbibliothek für Bayerisch-Schwaben und Augsburg sowie der Wissensgeschichte der Frühen Neuzeit historische und aktuelle Publikationen der Region. Für diese Aufgaben wird das Gebäude derzeit saniert und erweitert. Den Wettbewerb für den sechsstöckigen Erweiterungsbau, der bis Ende 2026 anstelle der rückgebauten Stadtbibliothek aus den 1950er Jahren entstehen soll, gewann 2016 die Berliner Niederlassung des Schweizer Architekten Max Dudler.
Quelle: www.stbaa.bayern.de/hochbau/projekte

[1] Gut verkäuflich waren Bauteile, die leicht demontierbar – also bspw. nicht verklebt, waren. Entsprechend wurden Produkte wie Fliesen oder verklebter Teppich nicht verkauft.
[2] Bayerns Staatsbauverwaltung plant, baut und erhält mit 22 staatlichen Bauämtern die Gebäude des Landes, des Bundes und weiterer Bauherren, z. B. Kirchen. In Summe sind das mehr als 25.000 Gebäude auf rund 5.100 Liegenschaften in Bayern.

Die Autorin


Sandra Hoffmann
Sandra Hoffmann studierte Architektur (Dipl.-Ing.) an der Fachhochschule Augsburg und absolvierte anschließend eine Weiterbildung zur Fachredakteurin. Seither schreibt sie für verschiedenste Fachmagazine aus dem Bau- und Architekturbereich.

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