Realisierte Objekte
Umnutzung für mehr Wohnraum: Von der Kirche zum Mehrfamilienhaus
Text: Marc Wilhelm Lennartz | Foto (Header): © DERIX-GRUPPE
In Essen wurde die Saalkirche St. Marien zu Wohnzwecken umgebaut. Das außergewöhnliche Holzbauvorhaben an alter Stätte steht symbolisch für den baulichen wie auch gesamtgesellschaftlichen Wandel.
Auszug aus:
QUARTIER
Ausgabe 1.2024
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Die Krise der Institution Kirche in Deutschland spiegelt sich auch in deren Bauwerken wider. In diesen schwierigen Zeiten lässt ein Beispiel im Ruhrgebiet aufhorchen. Das Ruhrbistum Essen, die katholische Pfarr- und Kirchengemeinde St. Marien und das Landesdenkmalamt realisierten, dass einzig ein bewusst initiierter Wandlungsprozess den Erhalt des Gotteshauses mittels einer sinngebenden Umnutzung sicherzustellen vermag. Bereits im Jahr 2008 waren die Schließung und Entweihung der seit 1989 unter Denkmalschutz stehenden Marienkirche erfolgt. Im Anschluss diente das leerstehende Gebäude in der Flüchtlingswelle als Lagerhalle und später als Kleiderkammer. Der Wandlungsprozess hat nun einen (vorläufigen) Abschluss gefunden: im holzbaulichen Umbau zu einem Mehrfamilienhaus.
Alte Bleiglasfenster wiederverwendet
Alte Bleiglasfenster wiederverwendet. Die in den Jahren 1924/25 vom Stadtbaurat und Architekten Wilhelm Stark errichtete, satteldachgedeckte Saalkirche St. Marien verfügt über einen niedrigen, eingezogenen Chor mit einem seitlich platzierten, 34,50 m hohen Glockenturm. Das auf einer leichten Anhöhe gründende, von einem Natursteinmauerwerk umsäumte Bauwerk wird von seinem südwestlich ausgerichteten Portal determiniert: Oberhalb eines Treppenaufgangs finden drei rundbogige Eingänge ihre symmetrische Entsprechung über drei hochrechteckigschmalen Fenstern im großen Eingangsgiebel. Das Portal wird an beiden Seiten von halbrunden Türmen mit einem Kegeldach eingefasst, die im Inneren als Sakristeianbauten fungierten und dem Eingangsbereich eine dezent herrschaftliche Note verleihen. Den Gebäudeabschluss markiert ein vierseitiger Aufsatz mit einer obenauf kupfergedeckten, wiederum halbrunden Kuppel. Der Umbau erforderte den Ausbau und die Aufarbeitung von insgesamt 20 alten Bleiglasfenstern mit Darstellungen verschiedener Künstler von einem Glasbau-Fachunternehmen. Dabei blieb z.B. die Kirchenfensterverglasung der Eingangsfassade erhalten, während andere Glasfenster externen Nutzungen zugeführt wurden.
Umbau entlang mittiger Erschließungsachse
Architektonisch galt es, das äußere Erscheinungsbild der denkmalgeschützten Kirche zu bewahren. So dient z.B. das ursprüngliche Eingangsportal auch weiterhin als Haupteingang mit den originalen, gleichwohl umgearbeiteten Portaltüren. Der planerischen Umsetzung vom Architekturbüro Dr. Klapheck lag die mittige Erschließungsachse zugrunde, die den Kirchengrundriss in zwei Hälften teilt. Dabei hat man die an der Westseite im Erdgeschoss liegenden, eingeschossigen Wohneinheiten mit behutsam zwischen Turm und Anbau im Chorbereich gelegenen Terrassen versehen. Hingegen weisen die an der Ostseite gruppierten Wohnungen, die sich L-förmig mit ihren Wohnräumen und Balkonen im 1. Obergeschoss ebenfalls nach Westen ausrichten, einen reihenhausähnlichen Charakter auf. Dem Erdgeschoss- und Erschließungsgrundriss dieser „Reihenhäuser“, die sich an dem vorhandenen Stützenraster der Kirche orientieren, ist ein Privatgarten mit Terrasse vorgelagert. Mittels dieser Umsetzung von Freisitzen konnte hier auf fassadenseitig montierte Balkone verzichtet werden. Um die Wohnungen mit ausreichend Tageslicht versorgen zu können, hat man die Fensteröffnungen unter Berücksichtigung der alten Fassadenrasterung vergrößert. Die sichtbare Ausführung mit einer schmalsprossigen Pfosten-Riegel-Konstruktion nimmt Bezug zu den ursprünglichen Proportionen der alten Kirchenfenster.
Wohnflächen zwischen 50 und 150 m²
Die ursprüngliche, nur 8 cm dicke Stahlbeton-Bodenplatte der St. Marien-Kirche in Essen Steele ist weitestgehend erhalten geblieben. Sie wurde ausgebessert, neu abgedichtet und mit einem 60 mm dicken, schwimmenden Zementestrich mit darauf verklebten Natursteinfliesen von 40 mm belegt. Dieser Bodenaufbau der Flurzonen wiederholt sich in den Wohnräumen, nur dass hier ein Heizestrich mit den Schleifen für die Fußbodenheizung und obenauf ein robustes Holz-Industrieparkett von 17 mm verlegt wurden. Im teilunterkellerten Untergeschoss konnten die alten Außenwände erhalten bleiben, wohingegen die Originalfenster gegen solche aus Isolierglas ausgetauscht werden mussten. Hier befinden sich die Abstellkammern der unteren Wohneinheiten sowie die Räumlichkeiten der Haustechnik, die über Außentreppen zu erreichen sind. Die oben liegenden Wohnungen verfügen jeweils über einen 60 m² großen Abstellraum im Dachgeschoss. In das Sakralgebäude sind insgesamt zwölf Eigentumswohnungen mit Wohnflächen zwischen 50 und 150 m² auf drei Ebenen, davon.
Zwei zusätzliche Wohnetagen aus vorgefertigten Massivholzelementen
Zwei zusätzliche Wohnetagen aus vorgefertigten Massivholzelementen Dank des modernen Holzbaus konnten die Eingriffe in die vorhandene Bausubstanz auf ein Minimum beschränkt werden, zumal das Dach aus Gründen des Denkmalschutzes nicht geöffnet werden durfte. Ebenso blieb die historische Fassade erhalten – sie wurde gereinigt, schadhafte Stellen wurden ausgebessert und final mit einem Anstrich in Abstimmung mit der Denkmalbehörde versehen. Erlaubte Eingriffe stellten die zusätzlichen Fensteröffnungen und -erweiterungen mit neuen Stürzen aus Stahlbeton und Stahl dar, um jede Wohneinheit mit ausreichend Tageslicht versorgen zu können. Das vorhandene Tragwerk der Marienkirche beruht im Wesentlichen auf zwei massiven Stützenreihen aus Ziegelmauerwerk in den Seitenschiffen, wobei die jeweils vier Stützen vom Erdgeschoss bis zur Dachebene reichen. Sie tragen gemeinsam mit den Außenwänden die Lasten der Mittel- und Seitenschiffe ab und leiten diese in die Fundamente ab. Im Zuge des Umbaus platzierte die Derix-Gruppe im Mittelschiff eine dritte, vom EG bis zum 2. OG geschossweise übergreifende Stützenreihe aus vierpaarweise angeordneten Stützen aus Brettschichtholz (BSH).
Auf diesen BSH-Stützen lagern BSH-Träger, welche die Außenwände mit den massiven Bestandsstützen verbinden. Zwecks Nutzung des halbrunden Chorraums errichteten die Zimmerer eine fächerartige BSH-Balkenstruktur auf den BSH-Stützen.
Auf dem BSH-Tragwerk lagern massivhölzerne Decken aus vorgefertigten Brettstapelelementen für die beiden neu eingezogenen Ebenen des ersten und zweiten Obergeschosses.
Herausfordernde Montage in beengter Räumlichkeit
Die räumlich begrenzten Verhältnisse bedingten eine stringente Baustellenlogistik. Denn die Öffnungen zum Einbau der Holzbauelemente waren nicht breiter als die in den Seitenschiffen vorher befindlichen Kirchenfenster. Diese Öffnungen wurden zwar nach ihrem Ausbau geschossübergreifend nach oben hin erweitert und durch neue Isolierglasfenster ersetzt, die Breite jedoch blieb nahezu gleich. In Abhängigkeit von der Größe der Öffnungen in den Seitenschiffen wurde z.B. die Maximalgröße der Deckenelemente berechnet und vorproduziert. Dabei bestand die Herausforderung darin, die Montierbarkeit sicherzustellen, was u. a. die Reihenfolge und Menge der einzubringenden Bauteile zu berücksichtigen hatte. Um die Kirche an die heute geforderten Mindeststandards wärmegedämmter Wohnräume heranzuführen, setzten die Planer auf eine innenseitige Dämmung. Dabei boten die alten, 50 cm dicken Außenwände aus Ziegelsteinmauerwerk eine mehr als solide Basis, sodass die Dämmebene mit 8 cm recht schmal gehalten werden konnte. Die Fortführung der mineralischen Materialität des Altbestands auf die neue Dämmebene konnte mit Isolierplatten aus Portlandzement, fein gemahlenem Natursand, Kalk und Wasser sichergestellt werden. Diese vermögen die Feuchtigkeit aus der umgebenden Raumluft aufzunehmen und mittels der Materialstruktur – über die Stege der in den Platten eingeschlossenen Luftporen – nach außen abzugeben. Aufgrund dessen blieb die bauphysikalische Funktionalität des Wandaufbaus mit der diffusionsoffenen, neuen Dämmebene erhalten. Den Abschluss markiert ein mineralischer Oberputz als fein geschliffener Kalkglätteputz.
Energieversorgung und Materialität
Die Versorgung mit Heizenergie bedient eine Luft-Wärmepumpe, wobei die Wärmeverteilung über Fußbodenheizungen geregelt wird. Auch die Warmwasserversorgung erfolgt zentral über die Heizungsanlage sowie über Frischwasserstationen mit Zirkulationsleitungen für Bäder und Küchen. Zusätzlich steht zur Abdeckung von Spitzenlasten ein Gasbrennwert-Kessel bereit. Die Umwidmung vom Kirchen- zum dringend benötigtem Wohnraum, noch dazu in zentraler und gut erschlossener Lage, wird nicht zuletzt von den Baumaterialien der jeweiligen Epoche getragen. Die ursprünglich rein mineralische Ausführung darf heute als Symbol einer begrenzten, rohstofflichen Materialität verstanden werden, die den aktuellen Anforderungen an eine ressourcenschonende Architektur nicht mehr gerecht wird. Folgerichtig fügte man dem vorhandenen Ziegelmauerwerk und Stahlbeton und damit der verbauten, grauen Energie, den weltweit einzigen nachwachsenden Baustoff von Belang, das Holz, hinzu.
Projektdetails
Bauherr, GU, Projektentwicklung Lambert Schlun GmbH & Co. KG, Essen (www.schlun.de) |
Architektur Bestand Stadtbaurat Wilhelm Stark |
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Architektur Umbau Architekturbüro Dr.-Ing. Hermann Klapheck – Büro für Architektur und Stadtplanung, Recklinghausen (www.dr-klapheck.de) |
Holzbau Werkplanung, Vorfertigung, Montage DERIX-Gruppe, Niederkrüchten + Westerkappeln (www.derix.de) |
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Tragwerksplanung, Wärmeschutznachweis LWS Ingenieurgesellschaft für Tragwerksplanung mbH, Duisburg (www.lwsing.de) |
Brandschutz IfBW Ingenieurbüro für Brandschutz Wuppertal GmbH, Wuppertal (www.ifbw-gmbh.com) |
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Glasbauarbeiten Glas Stebani GmbH, Essen (www.glasstebani.de) |
Gebäudedaten Nutzfläche: 1.450 m² Wohnfläche: 1.390 m² Brutto-Rauminhalt (BRI): ca. 9.000 m³ Baukosten: ca. 3,9 Mio. Euro (Kostengruppe 300 + 400) |
Der Autor
Marc Wilhelm Lennartz
Der Fachjournalist & Autor Marc Wilhelm Lennartz, Dipl.-Geograph mit Schwerpunkt Städtebau + Siedlungswesen, lebt in der Eifel und publiziert seit über zwei Dekaden u. a. in den Fachbereichen Architektur, Holzbau, Gebäudetechnik, Wohnungswirtschaft, Baubiologie und Denkmalpflege.
www.mwl-sapere-aude.com