Erdgeschossnutzung als positiver Impulsgeber: Vitale Stadtquartiere

Erdgeschossnutzung als positiver Impulsgeber: Vitale Stadtquartiere

Städtebau & Quartiersentwicklung

Erdgeschossnutzung als positiver Impulsgeber: Vitale Stadtquartiere

Text: Dr. Joseph Frechen, Andreas Schulten | Foto (Header): © ANDREAS SCHULTEN

Ob Spielhalle, Kita oder Apple Store – Erdgeschosse sind die Visitenkarten eines Quartiers und prägen den Charakter einer Stadt. Aber die Ansprüche an Stadtplaner, Vermieter und Immobilienprojektentwickler werden immer höher. Nun haben die drei Projektentwickler ehret+klein, HAMBURG TEAM und INTERBODEN, die Bundesstiftung Baukultur und das Analyseunternehmen bulwiengesa ihre zweite Erdgeschoss-Studie nach 2019 veröffentlicht. In der neuen Runde standen die Themen Gebäudebestand und Freiraum im Quartier im Fokus.

Auszug aus:

Sozial ausgewogene, gemischte und sichere Stadtquartiere – das wünschen sich Bewohner und Nutzer, das möchte die Politik. Leere Erdgeschosse passen da nicht ins Bild. Bereits seit etwa 2010 führen mehrere Faktoren zu einem wachsenden „Erdgeschossproblem“. In großen wie kleinen Städten fallen zunehmend Erdgeschosse auf, die nicht mehr vermietet werden können. Diese beeinträchtigen entweder als blinde Flecken oder aber durch einfache Nutzungen wie Spielhallen, Wettbüros oder Kioske den Gesamteindruck des Quartiers. Gleichzeitig entstehen Schieflagen bei der immobilienwirtschaftlichen Kalkulation. Ursache hierfür sind Faktoren wie der Rückgang der inhabergeführten Läden, der Online-Handel, baurechtliche Auflagen, teils ohne Augenmaß für den Immobilienmarkt, eine alternde Gesellschaft mit spezifischeren Bedürfnissen oder der Optimierungszwang wegen steigender Bau- und Grundstückskosten. Aktuell erschweren bekanntlich hohe Zinsen und Inflation die Situation.

Dabei können vitale Erdgeschosse nach der Bau- und Stadtentwicklungskrise ein Schlüssel für neue Impulse sein. Die Entwicklung des Bestands spielt hierfür eine immer wichtigere Rolle. Zwar sind Einzelhandel und Gastronomie immer noch die vorherrschenden Nutzungen, doch macht ein breites Nutzungsspektrum Erdgeschosse krisenfester und lebendiger. Alternativen zum Einzelhandel – etwa Kultur, Büros und Kleingewerbe – spielen eine zentrale Rolle. Es gilt, auf demografische und soziale Veränderungen im Quartier zu reagieren und bestimmte architektonische Grundvoraussetzungen, auch in der Freiraumplanung, umzusetzen.

Dies sind die Kernergebnisse der Workshops der fünf Akteure, die die vier grundlegenden Dimensionen – Soziologie, Ökonomie, Verkehr, Raum – von vitalen Erdgeschossen in der Kurzstudie „Projekt Erdgeschoss 5.0“ zusammengetragen haben.

Soziologische Dimension

Erdgeschosse sind das soziale Abbild eines Quartiers. In ihren jeweiligen Milieus sind sie ökonomisch resilient – wenn auch auf unterschiedlichen Mietniveaus. Nur eine sehr genaue Bestimmung des sozialen Milieus im Quartier ermöglicht Restaurants, Imbissen, Boutiquen und Fachgeschäften, ihre lokale Zielgruppe zu erreichen. Eine Shisha-Bar funktioniert in einem migrantisch geprägten Quartier, eine Kaffeerösterei im Wohlstandsquartier, ein Budget-Hotel im touristischen Hotspot. Es empfiehlt sich, Quartiere ganzheitlich zu betrachten und zu kalkulieren.

Zentrale Größen sind die Bewohner- und Frequenzstruktur. Diese Strukturen sind über die Jahre fließend – demografische Veränderungen prägen Erdgeschossnutzungen. Der Einkaufsbummel bleibt beim Innenstadtbesuch das vorrangige Motiv – noch. Denn: je jünger, desto seltener. Bei jüngeren Menschen haben auch in Quartierszentren Bildung, Gastronomie etc. eine hohe Bedeutung. Bei der Neugestaltung von Erdgeschossen gilt es daher, die demografische Entwicklung und den Mikrostandort im Blick zu halten.

1 | Übersicht über die Nutzungsoptionen für Ladengeschäfte
ABBILDUNG: ROBERT NEUHAUSER

2 | Mietspektrum für Läden in Erdgeschossen
ABBILDUNG: ROBERT NEUHAUSER

Studie
Die Kurzstudie „Projekt Erdgeschoss 5.0“ steht unter folgendem Link zum Download zur Verfügung:
bulwiengesa.de/de/publikationen/erdgeschosse-50

Ökonomische Dimension

Vitale Erdgeschosse können ein Schlüssel sein für neue Impulse, die es nach der Bau- und Stadt-entwicklungskrise braucht. Die Krise hat Projektentwicklungen ausgebremst, wie ein Blick in die bulwiengesa-Daten zeigt: Vom vierten Quartal 2022 bis zum vierten Quartal 2023 sind die Baustarts in Deutschland schon um gute 3 Mio. m² von 5,3 Mio. m² auf 2,1 Mio. m² gefallen. Diese Tendenz wird weiter anhalten und sowohl Wohnungs- als auch Büroneubau deutlich und langfristig bremsen.

Die Krise dreht die bisherige Logik auf Jahre um: Nicht dort, wo gebaut wird, müssen vitale Erdgeschosse entstehen, sondern dort, wo vitale Erdgeschosse bestehen, kann in Zukunft wieder gebaut werden. Besonders mittelgroße Gebäude aus den 1950er- und 60er-Jahren können gute Ankerfunktionen für eine Transformation auch im Umfeld haben. Transformation und Projektentwicklung im Bestand gewinnen an Bedeutung. Das erfordert einen wachen Blick für die Möglichkeiten und Qualitäten.

Der Einzelhandel bleibt neben der Gastronomie und nur wenigen ergänzenden privaten und öffentlichen Dienstleistungen die tragende Säule vitaler Quartierszentren. Dabei werden stationärer Einzelhandel und E Commerce auf absehbare Sicht eine Symbiose eingehen. Wichtiger Fakt ist, dass Online- Werbung zunehmend zu teuer und unwirtschaftlich ist. Die Chance von digitalen Angeboten liegt in der Förderung von individuellen („Craft“) statt skalierten Angeboten (Ketten) in Quartieren. Online-Handel und Erdgeschosse sind objektiv gesehen nur bedingt ein Gegensatzpaar.

In Quartieren werden digitale Informationen zu Waren und Gastronomieangeboten zusehends relevanter für eine gewünschte lokale Individualisierung des Angebots in Erdgeschossen. Bestell- und Lieferservices stützen eine Belebung von lokalen Angeboten und Marken jenseits der skalierten Filialstrukturen.

Das Mietspektrum für Ladeneinheiten in Erdgeschossen ist breit sowie von Standort und Nutzung abhängig. Das Autorenteam hat in den Workshops die Korridore herausgearbeitet, in denen Erdgeschosse in Deutschland je nach Situation kalkuliert werden können. Die Durchschnittsmieten haben eine enorme Bandbreite: Zwischen 118,50 €/m² in 1A-Lagen in A-Städten und 7,80 €/m² in Stadtteillagen in D-Städten. So kann beispielsweise ein Quartier, das konzeptionell und ökonomisch im Düsseldorfer Norden noch vitale Erdgeschossnutzungen ermöglicht, in kleineren Städten der Peripherie schon nicht mehr realisierbar sein. Gefragt sind ökonomisch tragfähige Lösungen jenseits der Hotspots.

3 | Zusammenhang von Baukultur und Fußgängerfrequenz
ABBILDUNG: ROBERT NEUHAUSER

Breite Nutzungspalette macht Erdgeschosse widerstandsfähiger

Die Warengruppen Textil und Gastronomie stellen seit Jahren die stärksten Nachfragergruppen für Ladeneinheiten und vereinen über 50 % der Vermietungen auf sich. Der Textilsektor konnte 2022 das Volumen sogar entgegen weit verbreiteter Meinung wieder steigern. Auch Telekommunikation und Elektronik steigen stetig an.

In vielen Quartieren öffnet sich das Spektrum an Nutzungen bereits in Ergänzung des Einzelhandels. Gastronomie, haushaltsnahe Dienstleistungen oder am Allgemeinwohl orientierte Angebote gewinnen an Bedeutung, vor allem in den weniger zentralen Lagen. Allerdings sind manche Quartiere gar nicht fähig, neue oder neu gestaltete vitale Erdgeschosse tragfähig zu halten.

Erprobte Einzelhandels- und Dienstleistungsformate haben klar definierte Einwohnerkenngrößen (plus ggf. Beschäftigte und Besucher) für tragfähige Ladenkonzepte. Ungefähr 40 % des Einwohnerpotenzials können einem Betrieb als Kernpotenzial zugeordnet werden.

Frequenz ist erfolgsentscheidend

Vitale Erdgeschosse leben vom Fußgängerverkehr. Frequenzen in verschiedenen Dimensionen sind eine Grundvoraussetzung für Erdgeschosse. Die oftmals im öffentlichen Besitz befindlichen, vorgelagerten Zonen von Ladenflächen haben eine hohe Aufmerksamkeit verdient. Deren Gestaltung, die in der Zuständigkeit der Kommunen liegt, können sehr wertvolle Impulse für vitale Erdgeschosse in Quartieren geben.

Architektonische Grundvoraussetzungen sind – besonders im Quartier – Einsehbarkeit der Erdgeschosse und ein einladender Gebäudeantritt. Dem steht ökonomisch an vielen Stellen in Deutschland ein Optimierungs- und Effizienzzwang entgegen. Hier sollten niedrigschwellige Sondernutzungsvereinbarungen mit den Städten mehr Lebendigkeit schaffen und Zugangsschranken abbauen.

Resilienz erfordert Gebäude und Flächenangebote, die sichtbar, klimatisch angenehm und ökonomisch handhabbar sind. Dabei ist auch das Thema Dichte als städtebauliches Thema gerade unter Ressourcen-Gesichtspunkten zentraler Diskussionspunkt geworden.

Als aktuell zeitgemäßes Fazit kann man festhalten: In den kommenden Jahren, die absehbar von einer gravierenden Bau- und Stadtentwicklungskrise in deutschen Städten gezeichnet sein werden, werden reine Neubauquartiere eine spürbar geringere Rolle spielen als in den zurückliegenden 2010er-Jahren. Neubelebte Erdgeschosse mit Einzelhandel, Gastronomie, Dienstleistungen und Gemeinwohlangeboten werden also abhängiger von kluger Transformation im Gebäudebestand, innerstädtischen Verkehrsfunktionen und Naturerlebnisräumen.

Die Autoren


Dr. Joseph Frechen
Dr. Joseph Frechen leitet die Hamburger Niederlassung sowie den Bereich Einzelhandel bei bulwiengesa. Dazu gehören die Analyse und Bewertung von Einzelhandelsobjekten, Markt- und Standortanalysen sowie die Begleitung von Projektentwicklungen im Einzelhandel.

Andreas Schulten
Andreas Schulten war bei bulwiengesa bis Ende 2023 Generalbevollmächtigter
und kennt seit über 30 Jahre die Branche und deren Akteure. Er hält weiterhin verschiedene immobilienwirtschaftliche Lehraufträge und engagiert sich in der Stadtforschung.

bulwiengesa.de

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