Städtebau & Quartiersentwicklung
Vertikale Verdichtung: Das Dach als Rohdiamant
Text: Saskja Jagenteufel & Klaus H. Niemann | Foto (Header): © BRIQLLIUANATR EYTEI/EPHRO TO4C.A2S0E.1D9
Die Wohnraumpolitik steht unter Druck: Insgesamt werden pro Jahr 350.000 bis 400.000 neue Wohnungen benötigt, um die Nachfrage an bezahlbarem Wohnraum decken zu können. Dabei schlummert auf und unter den Dächern der Städte großes Potenzial für eine innerstädtische Nachverdichtung, ohne wertvolle Freiflächen zu versiegeln.
Auszug aus:
QUARTIER
Ausgabe 4.2019
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Immer mehr Menschen drängen in die Städte. Die Möglichkeiten, den angespannten Wohnungsmarkt zu entlasten, ruhen vor allem auf den Dächern der 1950er- bis 1970er-Jahre-Häuser. Da sie altersbedingt meist kurz vor einer Sanierung stehen, liegt ein paralleler Ausbau quasi auf der Hand. Und dabei sind diese Flächen nicht nur funktional, sondern auch räumlich ein echter Gewinn. Laut der aktuellen „Deutschlandstudie 2019“ der TU Darmstadt und des Pestel-Instituts bietet aber nicht nur die Fläche unter dem Dach eine wertvolle Reserve. Insgesamt zwei Millionen Wohnungen können laut der Wissenschaftler durch Aufstockungen auf Wohn- und Nicht-Wohngebäuden in Deutschland realisiert werden. Überall dort, wo die Grundstücksflächen knapp bemessen und teuer sind, sind Aufstockungen besonders attraktiv. Prof. Karsten Tichelmann von der TU Darmstadt erläutert: „Büro- und Geschäftshäuser, eingeschossige Discounter mit ihren Parkplätzen bieten ein enormes Potenzial für zusätzliche Wohnungen – durch Nachverdichtung wie Aufstocken, Umnutzung und Bebauung von Fehlflächen. Zusätzlich lässt sich eine Auswahl an öffentlichen Verwaltungsgebäuden für neuen, bezahlbaren Wohnraum nutzen.“ Die Herausforderungen, Wohnraum ohne zusätzliches Bauland zu schaffen, sind dabei politentscher Natur. Das Bau- und Planungsrecht müsse weiterentwickelt werden, fordert die Bundesarchitektenkammer gemeinsam mit 15 weiteren Verbänden und Organisationen der Bau- und Immobilienbranche als gemeinsamer Auftraggeber der „Deutschland-Studie 2019“. Eine Überschreitung der Geschossflächenzahl, eine gewisse Flexibilität bei Trauf- und Firsthöhen und bessere Anreize für private Investoren und Wohnungsbaugesellschaften sind nur einige der Forderungen für die Änderung von politischen Rahmenbedingungen.
Potenziale von Baulücken erfassen und nutzen
Städte wuchsen lange Zeit in ihren Randbereichen, anstatt das Potenzial des innerstädtischen Raums zu stärken. Ortsabhängig gehören meist kriegsbedingte Baulücken auch heute noch zum Erscheinungsbild vieler Städte. Der Hamburger Architekt Babis Tekeoglou hat sich vor einigen Jahren des Baulückenmanagements in Hamburg angenommen, um Potenziale der Nachverdichtung aufzuzeigen und Lücken zu schließen. „Inzwischen sind die Baulücken in Hamburg weitestgehend abgegrast“, so Tekeoglou, Gründer und Inhaber von BCT Architekt. „Noch vor wenigen Jahren gab es allerdings links und rechts der Alster etwa 350 Grundstücke, die brach lagen.“ Die Kooperation mit den Genehmigungsbehörden und notwendige Befreiungen vom bestehenden Baurecht seien hierbei in der Regel nicht das Problem. Die Herausforderung liege vielmehr darin, die unterschiedlichen Interessen der Nachbarn und des Eigentümers zu vereinen. Auch Städte wie Köln oder Berlin erkennen das Potenzial. So arbeitet Berlin derzeit an der systematischen Erfassung von Grundstücken in einem digitalen Baulückenkataster. Und in Köln konnten von 6.000 erfassten Lücken bis heute immerhin schon 3.800 Grundstücke bebaut werden.
Viele Großstadtdächer können noch mehr
Wie bisher ungenutzte Räume durch kleinere oder größere Maßnahmen in ansprechende und zeitgemäße Wohnungen verwandelt werden können, zeigen Beispiele aus Hamburg, Berlin und Rotterdam. So wurde der Dachboden eines Steildachs des viergeschossigen Rotklinkerbaus aus den 1950er-Jahren in Hamburg zu Wohnraum ausgebaut. In Berlin konnte die historische Dachform, die durch die Folgen des Kriegs zerstört wurde, aufgestockt und modern interpretiert werden. Und am Beispiel Holland wird deutlich, dass die drei blauen Giebeldächer auf einer Kleiderfabrik eine provokante Antwort auf die vertikale Verdichtung geben.
Der Architekt Babis Tekeoglou bekam bereits 2012 den Auftrag, den typischen Nachkriegsbau mit schlichter Klinkerfassade in Hamburg-Eilbek umzubauen. Eine Dachgeschosswohnung war bereits vorhanden, die restliche Fläche bis dahin ungenutzt. Das Satteldach wurde rückgebaut und unter dem neuen First Platz für eine zweite Ebene geschaffen. So sind drei weitere Wohnungen entstanden, die sich die Vorteile des geneigten Daches zu eigen machen. Der Grundriss ist modern und von einer offenen Raumfolge über zwei Ebenen geprägt. Der großzügige Eindruck wird von einer Galerie unterstützt, die sich wie ein Steg durch die Wohnung zieht und immer neue Blickbezüge herstellt. Das Ergebnis ist ein Typus, der beispielhaft für eine Vielzahl ungenutzter Dachräume von Mehrfamilienhäusern stehen kann. Projekte wie diese sind für Tekeoglou keine Seltenheit. So widmet er sich derzeit einem umfassenden Dachausbau in Barmbek. Dabei handelt es sich um ein Gebäudeensemble aus den 1950er-Jahren mit einer Gesamtfläche von ca. 1.000 m², von denen bisher nur 30 bis 40 % als Wohnungen genutzt wurden. In mehreren Bauabschnitten wird das Gebäude energetisch saniert und mit einem neuen, ausgebauten Dach versehen. Tekeoglou bezeichnet das vorhandene, bundesweite Potenzial, Dächer auszubauen, aufzustocken und als Wohnraum zu nutzen, als enorm. „Insbesondere in Großstädten wie Hamburg oder Berlin gibt es zahlreiche Dachrohlinge, die nur darauf warten, ausgebaut zu werden.“ Dabei sieht er aber auch ganz klare Verantwortlichkeiten: „Die Politik muss sich in der Pflicht sehen, realistische Lösungen vorzuschlagen, um die brach liegenden Flächen nutzen zu können.“ Enteignung oder Mietpreisbremsen sind für ihn dabei weniger erfolgsversprechend als Kooperationen mit Wohnungsgenossenschaften oder Subventionen. „Wieso wird nicht mal über einen Zeitraum von beispielsweise fünf Jahren das Baurecht gelockert, um Prozesse zu beschleunigen?“
Antworten auf grundsätzliche Fragen zur Aufstockung oder zum Ausbau liefert der für das Wohngebiet geltende Bebauungsplan. Gebäudehöhen, Dachform, -neigung und Firstrichtung sind schnell ermittelt. Aber auch die Anforderungen an den Schall- und Brandschutz müssen vorab geklärt werden. Zudem muss die Bausubstanz in der Lage sein, eine zusätzliche Last zu tragen. So auch in Berlin: Das Gebäude am Olivaer Platz, das Anfang des 20. Jahrhunderts als neoklassizistisches Wohn- und Geschäftshaus errichtet wurde, trug infolge des Kriegs massive Schäden davon. Die historische Dachform wurde durch einen Brand zerstört. Eike Becker Architekten gelang es nach intensiven Gesprächen mit dem Stadtplanungsamt der Stadt Berlin, das Dach in seinem Volumen zeitgenössisch zu interpretieren und dem stuckverzierten Gebäude eine Krone aufzusetzen. Das Dach, das als Stahlkonstruktion ausgeführt wurde, passt sich den Dachneigungen der Umgebung an und positioniert sich gleichzeitig als selbstbewusstes, geknicktes und gefaltetes Band. Die einbrennlackierten, hellen Aluminiumpaneele mit den dunklen Fensterbändern setzen sich bewusst von der vorhandenen Fassade des Gebäudes ab, um die Aufstockung von der Straße aus ablesbar zu machen. Durch den Umbau des gesamten Gebäudes konnten insgesamt 20 Wohnungen und sieben Läden realisiert werden. Unter dem Dach bieten zwei zweigeschossige Penthouse-Wohnungen mit Dachterrassen einen großzügigen Blick über die westliche Berliner Innenstadt.
Neben diesem realisierten Projekt beschäftigt sich Eike Becker, Inhaber des gleichnamigen Büros in Berlin, aber auch konzeptionell mit vertikaler Verdichtung. Seine Vision: Vertical Villages – ausgediente Bürohochhäuser, die zu Wohntürmen umgenutzt werden. In den oberen Etagen mit möblierten Miniappartements und im Sockelbereich ein Marktplatz mit Kommunikationszonen als private und öffentliche Bühne des Sozialen. Das Leitbild dazu lautet, Vorhandenes zu nutzen und nachzuverdichten statt zu zersiedeln. Erst wenn vorhandene Potenziale dazu genutzt werden, Begegnungsräume zu schaffen, werden Städte zu urbanen Dörfern.
Mit dem ersten Projekt in der eigenen Heimatstadt verpasst das Architekturbüro MVRDV Rotterdam ein blaues Wunder: Ein Minidorf auf dem Dach. So präsentiert sich der Entwurf, der durch die Verteilung der einzelnen Häuser auf dem Plateau Plätze, Gassen und Aufenthaltsbereiche schafft und den Bewohnern dennoch genügend Privatsphäre bietet. Als Prototyp städtischer Verdichtung schafft das „Didden Village“ einen weithin sichtbaren Ankerpunkt in der Stadt. Überhöht, durchgefärbt und selbstbewusst thront das Ensemble auf dem Atelierhaus des Theaterperückenmachers Sjoerd Didden und setzt sich als markanter Konterpunkt bewusst von der Umgebung ab. Durch die eingeschränkte Tragfähigkeit des Altbaus musste der Ausbau besonders behutsam durchgeführt werden. Die Dachaufbauten aus vorgefertigten Holzrahmenbauteilen stehen auf einer Rahmenkonstruktion aus Stahlträgern. Aber dieses Projekt bietet mehr als einen neuen Wohnraum für eine vierköpfige Familie. Durch die Abdichtung mit einem PUR-Spritzcoating und der anschließenden Deckschicht aus hellblauem PU wirkt es wie eine Plastik, die nach Aufmerksamkeit ruft. Es symbolisiert die Verdichtung alter und bereits bestehender Stadtteile durch Addition und Neuinterpretation. MVRDV transportieren mit diesem Projekt ihre Einstellung zur lebenswerten Architektur und zeigen auf, wie auf unbewohnter Fläche neues Leben entstehen kann.
Chancen ausbauen und Perspektiven bieten
Die Nachfrage nach bezahlbarem Wohnraum ist ungebrochen. Eigentümer von Bestandsimmobilien wägen allerdings sehr genau ab, ob und welche Investition sich auch wirtschaftlich für sie rechnet. Bei Ausbauten müssen nicht selten die Geschossdecken verstärkt, das Dach abgedichtet und zusätzlich gedämmt oder gänzlich neu gebaut werden. Zudem müssen die Räume auch nach dem Ausbau den Ansprüchen des Brandschutzes gerecht werden, über eine ausreichende Raumhöhe verfügen und genügend Tageslicht aufnehmen. Zu den Kostentreibern gehören dazu noch der Anschluss an das Treppenhaus, je nach Bauordnung zusätzlich auch an einen Aufzug sowie der Nachweis ausreichender Stellplätze. Obwohl somit durch die hohen Herstellungskosten eher Wohnraum im gehobenen bis mittleren Preissegment entsteht, ergibt sich für den Wohnungsmarkt aber auch ganz allgemein ein positiver Effekt: Künftige Mieter der neuen Dachwohnungen ziehen aus ihren bisherigen Wohnungen aus und machen oftmals günstigere Bestandswohnungen frei. Das Verbändebündnis, das die „Deutschland-Studie 2019“ in Auftrag gegeben hat, formuliert hierzu ganz klare Forderungen an die Politik. Das Bau- und Planungsrecht müsse entsprechend weiterentwickelt und finanzielle Anreize für Investoren geboten werden, damit das Potenzial ausgeschöpft werden könne. So lautet die Forderung beispielsweise, dass die Abschreibung von bisher 2 % bei Dachaufstockungen und der Umnutzung von Nicht-Wohngebäude auf einen AfA-Satz von 4 bis 5 % angehoben werden. Für kommunale und genossenschaftliche Wohnungsbaugesellschaften solle sogar eine Investitionszulage von 15 % gewährleistet werden. Nur so könne der richtige Weg eingeschlagen und bezahlbarer Wohnraum in urbanen Lagen geschaffen werden.
Die Autoren
Saskja Jagenteufel & Klaus H. Niemann
Saskja Jagenteufel hat in Hannover Architektur und Städtebau und in Bochum Architektur Media Management studiert. Seit 2018 arbeitet sie als PR-Beraterin bei Brandrevier. Seit der Gründung im September 2018 betreut sie die Pressearbeit von Dachkult, einem Zusammenschluss von 21 Mitgliedsunternehmen aus der Baustoffindustrie, deren Ziel es ist, das Steildach als baukulturelles Element wieder stärker ins Bewusstsein der Architekten und Planer zu rücken. Sprecher der Initiative ist Klaus H. Niemann.
dachkult.de