Städtebau & Quartiersentwicklung
Forschungsprojekt für nachhaltige Quartiersentwicklung: Neuartige Quartiersangebote
Text: Agnes Förster & Nina Berding | Foto (Header): © RWTH AACHEN
Das Forschungs- und Entwicklungsprojekt Quartier4 des Lehrstuhls für Planungstheorie und Stadtentwicklung der RWTH Aachen nimmt in Kooperation mit zahlreichen Praxispartnern die Handlungsebene Quartier in den Blick. Es untersucht, wie neue Angebote im Quartier wirkungsvoll kombiniert und koordiniert werden können, um aktuellen und zukünftigen Herausforderungen in Quartieren zu begegnen und Impulse für eine nachhaltige Quartiersentwicklung zu setzen.
Auszug aus:
QUARTIER
Ausgabe 2.2023
Jetzt abonnieren
Diese Ausgabe als Einzelheft bestellen
Quartiere sind das Lebensumfeld, in denen für die Bürger die Lebensqualität einer Stadt greifbar und erlebbar wird. Dort wirkt der physische Stadtraum mit funktionalen Angeboten und sozialen, kulturellen wie ökonomischen Prozessen zusammen. Damit lassen sich Quartiere als räumliche Systeme verstehen, deren Komplexität – im Gegensatz zur Gesamtstadt oder gar Region – jedoch noch begreifbar ist und die von den Akteuren vor Ort aktiv entwickelt und gestaltet werden können. In Städten gibt es eine Vielzahl von Quartierstypen, die unterschiedliche Begabungen und Herausforderungen haben. Eine aktive Quartiersentwicklung seitens der Kommune ist in einigen Quartieren notwendig – andere Quartiere „laufen“ von allein.
Städte sehen sich mit zahlreichen Trends und Treibern konfrontiert. Zukunftsfragen stellen sich beispielsweise in Bezug auf den Umgang mit einer bunten und älter werdenden Gesellschaft, die Wirkung der Digitalisierung, die Zukunft der Daseinsvorsorge, die weitere Erstarkung des Online-Handels, den Wandel von Lebensstilen mit weiter zunehmender Individualisierung und Vereinsamung sowie neuen Möglichkeiten, Präferenzen und Notwendigkeiten für einen umfassenden Wandel der Mobilität.
Ausgangshypothese des Projekts Quartier4 ist, dass sich aktuell eine Vielzahl neuer Angebote in den Bereichen Wohnen, Freiraum, Soziales, Bildung, Pflege, Mobilität, Versorgung und Logistik entwickelt – getrieben von technologischen, sozialen und räumlichen Innovationen. Die „Macher“ und „Betreiber“ dieser Angebote sind äußerst vielfältig und vielfach unübersichtlich. In klassische kommunale Aufgabenbereiche drängen Anbieter der Privatwirtschaft, aber auch Verbände, Vereine, Initiativen. Bewohner und Nutzer vor Ort entwickeln ebenfalls neue Aktivitäten. Dies birgt Chancen: Durch die geschickte Kombination und Koordination einzelner Angebote können Quartiere für breite Zielgruppen an neuer Attraktivität gewinnen und damit Sozialräume als Ganzes positive Entwicklung erfahren. Zugleich deuten sich Risiken an: Private Anbieter okkupieren den öffentlichen Raum, neue Angebote sind nicht ausreichend zugänglich für verschiedene Zielgruppen und gefährden daher die soziale Teilhabe, die Marktlogik marginalisiert bestimmte Lagen und Quartiere.
Als Ergebnis liefert das Forschungsprojekt eine Planungshilfe für nachhaltige und am Gemeinwohl orientierte Entwicklungen städtischer Neubau- und Bestandsquartiere. Der innovative Entwicklungsansatz setzt an den spezifischen Herausforderungen und Ressourcen von Quartieren an. Ein umfangreiches Repertoire neuer Instrumente liefert einen „Markt der Möglichkeiten“, der Kommunen, Wohnungswirtschaft, Planungsbüros genauso wie Bewohner, Initiativen und Netzwerke in den Quartieren unterstützt, gemeinsam die Lebensqualität in Quartieren zu verbessern. Der Instrumentenkasten lädt zu Kooperation und Co-Produktion der Zukunft im Quartier ein.
Im Forschungsprojekt wurde ein nachhaltiger Quartiersansatz aus vier miteinander verknüpften Ebenen entwickelt. Neben einer großen Vielzahl unterschiedlicher neuartiger Angebote werden Prozessbausteine vorgeschlagen, welche die Kapazität haben, verschiedene Angebote zu koppeln und zu bündeln. Für die Passfähigkeit in den jeweiligen Quartieren – im Bestand und Neubau – sorgen die sog. Wirkprinzipien. Diese geben eine Orientierungshilfe und definieren eine erste Stoßrichtung für die Entwicklung. Schließlich thematisiert die vierte Ebene relevante Steuerungselemente für den innovativen Quartiersansatz.
Im Gegensatz zu langfristig angelegten Projekten der integrierten Stadtentwicklung handelt es sich bei neuen Angeboten um größtenteils niederschwellige Lösungen. Ihnen liegt eine implizite Nachfrage durch die Quartiersbewohner zugrunde, sodass die Angebote auf die Bedürfnisse der Bewohner nach Information und Sicherheit, Mobilität, Pflege und Unterstützung, Versorgung mit Gütern, Vernetzung und Teilhabe sowie Befähigung und Selbstverwirklichung reagieren und diese adressieren. So steigern sie die individuelle Lebensqualität und stellen infolgedessen Grundlagen für eine nachhaltige Entwicklung des Quartiers dar.
Im Rahmen des Forschungsprojekts wurde ein Katalog von 70 neuartigen Angeboten erstellt und steckbriefartig aufbereitet. Neuartige Angebote basieren dabei auf verschiedenen Formen der Neuartigkeit. Im Bereich „Raum und Funktion“ geht es etwa um Raum und Lage (z. B. zentrale Anlaufstelle für Pflege), Mittel zur Befähigung (z. B. Medien-HUB) oder die Lieferung (z. B. Quartiersbote). Im technologischen Bereich spielen Medien (z. B. lokale Nachbarschaftsplattformen) und Anwendungen (z. B. technische Living Assistance) eine Rolle. Der Bereich „Akteure und Organisation“ gliedert sich u. a. in Personen und Institutionen (z. B. zielgruppenbezogene Hilfe und Netzwerkbildung), Bündel und integrale Konzepte (z. B. Generationenwohnen) oder Relokalisierung (z. B. Kultur auf Rädern). Im sozialen und kulturellen Bereich gibt es Beispiele bei Begegnung und Aktivitäten (Zuhör-Kiosk), Sharing (z. B. Skill-Sharing), Brücken bauen (z. B. Nachbarschaftsküche – Arbeitsplätze inklusiv) oder Mitmachen und Aushandeln (z. B. Projektberatung durch Lotsen).
Im Katalog treten die 30 identifizierten Angebote, die auf soziokultureller Innovation beruhen, besonders hervor. Dies legt den Gedanken nahe, dass sich in ihnen ein deutlicher kultureller Umbruch und ein spürbarer gesellschaftlicher Wandel in Quartieren manifestiert.
Dem Forschungsprojekt liegt die Annahme zugrunde, dass die zahlreichen, neuartigen Angebote in Wechselwirkung miteinander treten können und durch ihre Verknüpfung Synergieeffekte in Hinblick auf die Wirkung bei den Zielgruppen und auf die nachhaltige Entwicklung im Quartier entstehen. Prozessbausteine bezeichnen mögliche Koppler für die Kombination einzelner Angebote mit dem Ziel, die Wirkung der Angebote zu verstärken und einen Mehrwert für die Zielgruppen und das Quartier zu generieren.
Sie entstehen aus Berührungspunkten Anknüpfungsstellen oder Überlappungen von Angeboten; sie können unbeabsichtigt entstehen oder aber absichtsvoll gestaltet sein. Sowohl die absichtsvolle als auch absichtslose Verknüpfung von Angeboten implementiert einen Prozess.
Im Forschungsprojekt wurde ein Katalog mit 38 Prozessbausteinen erstellt. Zu diesen zählen:
- räumliche Bausteine – Beispiel: zentrale Lage an höher frequentierten Wegen
- Nutzungsbausteine – Beispiel: Management für Mehrfachnutzungen
- personelle Bausteine – Beispiel: Netzwerke bilden
- Informationsbausteine – Beispiel: niederschwellig Wissen teilen
- Entwicklungsbausteine – Beispiel: Narrative und Identifikation
Das Quartier als zentrale Handlungsebene ist – im Gegensatz zur Gesamtstadt oder Region – in seiner Komplexität begreifbar und kann aktiv gestaltet und entwickelt werden. Die vielen Trends und Treiber, mit denen sich Städte aktuell konfrontiert sehen, führen jedoch vielerorts zu zahlreichen Herausforderungen auf Quartiersebene. Für eine nachhaltige und strategische Quartiersentwicklung ist, insbesondere angesichts der häufig knappen finanziellen, personellen und auch zeitlichen Ressourcen, ein selektives Vorgehen notwendig.
Angesichts dessen schlägt der Entwicklungsansatz Quartier4 sog. Wirkprinzipien als dritte Ebene des Modells vor. Sie dienen als Orientierungshilfe im Planungsprozess und geben eine erste Stoßrichtung für die Entwicklung vor. Dabei lässt sich mithilfe der Wirkprinzipien eine Fokussierung vornehmen und die Konzentration auf gezielte, wirksame Maßnahmen einleiten. Gleichzeitig geben die Wirkprinzipien Impulse für einen strategischen Ansatz auf Quartiersebene. Sie dienen als Richtungsvorgabe, um gezielt Begabungen der Quartiere zu nutzen, Risiken zu umgehen und positive Veränderungen in Gang zu setzen.
Beispiele aus dem Katalog der 22 Wirkprinzipien sind u. a.:
- Identifikationsorte als Kristallisationspunkte von Gemeinschaft
- Fokus auf verbesserte Quartiersorganisation
- über Alltagspraktiken Sozialkapital aktivieren
- über Stärkung einer Zielgruppe das Quartier stärken
- Orte des Gemeinwesens als zentrale Ankerpunkte aufladen
Als Forschungsteam sind wir davon überzeugt, dass die zuvor dargestellten Angebote, Prozessbausteine und Wirkprinzipien ein enormes Potenzial für eine nachhaltige Quartiersentwicklung bergen. Um dieses auszuschöpfen, ist allerdings eine vierte Ebene, die Ebene der Steuerungselemente notwendig. Sie reflektiert relevante Faktoren in Bezug auf neue Rollenverständnisse und Steuerungsbedarfe, die aus den Erkenntnissen zu Angeboten, Prozessbausteinen und Wirkprinzipien für bestehende und neue Akteure im Quartier erwachsen. Sie dienen als Gesprächsangebot für diejenigen, die für Quartiere Verantwortung tragen, vor Ort tätig sind oder entsprechende Rahmenbedingungen legen. Anhand der Steuerungselemente können Diskussionen angeregt, aber auch Impulse zur Gestaltung von Angeboten im Quartier – von Fach- bis Verwaltungsebene – gesetzt werden.
Dialogorientiertes Entwicklungsmodell
Zentrales Ergebnis des Forschungsprojekts Quartier4 ist ein dialogorientiertes Entwicklungsmodell. Es verdeutlicht, auf welchen Ebenen Planungsmethoden und Instrumente im Quartier wirken und dient der Kommunikation auf inter- und transdisziplinärer Ebene. Das Entwicklungsmodell verknüpft die Ausgangslage im Quartier mit der gewünschten längerfristigen Entwicklungsperspektive sowie den heutigen und zukünftigen Bedürfnissen verschiedener Zielgruppen im Quartier, an denen die Instrumente auf vier Ebenen ansetzen können. Kurz gefasst werden Ausgangslage, Ziele und Maßnahmen im Quartier in einen Bezug gesetzt und im Dialog mit Akteuren um verschiedene Formen des Wissens ergänzt, erörtert und ausgehandelt. Dieses Vorgehen folgt dem Planungsansatz des Lösens komplexer Probleme, welcher die wechselseitigen Bezüge zwischen einer als misslich bewerteten Ausgangslage, einer gewünschten Entwicklungsrichtung und wirkungsvollen Maßnahmen im Feld von Ist-Zustand und Soll-Entwicklung betont [1]. Auch in der transformativen Forschung, die gesellschaftliche Probleme und Transformationsaufgaben adressiert, wird die Bedeutung des Dreiklangs aus System-, Ziel- und Transformationswissen hervorgehoben [2]. Diese verschiedenen Formen des Wissens spielen bei der Koproduktion von realweltlichen Lösungen eng zusammen.
Dem Entwicklungsmodell liegt eine Mehrebenenperspektive auf die Quartiersentwicklung zugrunde. Neben der Unterscheidung von Herausforderungen und Ressourcen im Quartier betrachtet diese die Entwicklung eines Quartiers im Wechselspiel aus drei Ebenen: Raum, Organisation und Werte. Veränderungen im Quartier können über Impulse auf allen drei Ebenen angestoßen werden [3].
Die Raum-Ebene umfasst den physischen, materiellen Raum, die Funktionen und Nutzungen, die darin angeboten werden und möglich sind, genauso wie den Prozessraum der Bewohner und Nutzer. Die Organisations-Ebene bezieht sich auf die Planung, Gestaltung und Steuerung im Quartier. Dazu gehören Akteure, die Wissen und Ressourcen einbringen und Entscheidungsmacht für Belange des Quartiers besitzen, sowie die Formen ihrer Kommunikation und Kooperation. Gemeint ist hier also die spezifische Quartiers-Governance. Die Werte-Ebene meint die normative Ausrichtung der Menschen im Raum genauso wie der Akteure, welche das Quartier organisieren. Dazu zählen grundlegende Werthaltungen von Individuen oder Gruppen sowie gültige rechtliche oder etablierte soziale Normen. In Bezug auf Quartiere gehören zu dieser Ebene auch das Image, die gelebten Umgangsformen und die Nutzungskultur in Bezug auf Räume, Angebote und Aktivitäten [4] [5].
Wandel im Quartier wird im Wechselspiel dieser Ebenen angestoßen. So können neue gemeinschaftliche Angebote im Raum auch eine neue Wahrnehmung in einem Quartier wie beispielsweise eine stärkere Wertschätzung gemeinschaftlicher Aktivitäten oder bestimmter sozialer Gruppen auslösen. Das ist wiederum eine Voraussetzung dafür, dass diese Gruppen auf der Governance-Ebene eine verstärkte Berücksichtigung und Verankerung finden. Ein Update von Organisationsformen oder die Befähigung von Akteuren in ihrer Handlungsfähigkeit für gemeinsame Anliegen im Quartier kann eine Voraussetzung dafür sein, dass veränderte Bedürfnisse wahrgenommen und kurzfristig und unbürokratisch adressiert oder in Krisen und Schock-Situationen Ad-hoc-Lösungen entwickelt werden.
Das Modell ist zugleich eine Planungshilfe: Im Format von Workshops, Open Spaces, runden Tischen oder mehrstufigen kollaborativen Planungsprozessen kann diese unmittelbar in der Praxis eingesetzt werden. Sie bietet einen innovativen Kommunikations- und Interaktionsansatz, der die differenzierte Neuverhandlung von Herausforderungen und Ressourcen im Quartier unterstützt.
Quellen/Verweise
Die Ergebnisse des Forschungsprojekts werden im Verlauf des Jahres als open-access Publikation im transkript Verlag erscheinen. Neben Agnes Förster und Nina Berding haben am Forschungsprojekt Quartier4 Angelina Bolten, Paula Erckmann und Maya Kretzschmar mitgearbeitet.
[1] Schönwandt, Walter L., Katrin Voermanek, Jürgen Utz, Grunau Jens und Christoph Hemberger (2013): Komplexe Probleme lösen. Ein Handbuch. Berlin: Jovis.
[2] Wuppertal Institut (2022): Transformative Forschung. wupperinst.org/forschung/transformative-forschung, Zugriff am 25.07.2022
[3] Bangratz, Martin und Agnes Förster (2021): Local Data and Global Ideas. Citymaking in Times of Digital Transformation. In: pnd|online 2/2021, 7 – 23.
[4] Förster, Agnes und Alain Thierstein (2008): Calling for Pictures. The Need for Getting a Picture of Mega-City Regions. In: Alain Thierstein und Agnes Förster (Hrsg.): The Image and the Region – Making Mega-City Regions Visible! Baden: Lars Müller Publishers, 9 – 34.
[5] Förster, Agnes und Alain Thierstein (2009): Visualisierungen in räumlichen Planungsprozessen – Über die Gleichzeitigkeit der Arbeitsebenen Analyse, Entwurf, Organisation und Politik. Tagung „Stadt als Erfahrungsraum der Politik“ des Arbeitskreises „Politik und Kultur“ der DVPW, 26. – 28.02.2009, München.
Die Autorinnen
Prof. Dr. Agnes Förster
Prof. Förster ist Architektin und Stadtplanerin und leitet den Lehrstuhl für Planungstheorie und Stadtentwicklung an der RWTH Aachen University. Sie beforscht und gestaltet Prozesse vom Quartier bis zur Region.
www.pt.rwth-aachen.de
Dr. Nina Berding
Dr. Berding ist Stadtsoziologin und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Planungstheorie und Stadtentwicklung an der RWTH Aachen University. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen auf der Erforschung städtischen Zusammenlebens und ethnografischen Methoden der Raumanalyse.