Wohnen ohne Auto in München: Urbaner Geschosswohnungsbau mit Stahlbeton-Fertigteilen

Wohnen ohne Auto in München: Urbaner Geschosswohnungsbau mit Stahlbeton-Fertigteilen

Realisierte Objekte

Wohnen ohne Auto in München: Urbaner Geschosswohnungsbau mit Stahlbeton-Fertigteilen

Text: Walter Mühlbauer, German Deller & Ruth Ludwig | Foto (Header): © Dmitry Rukhlenko – stock.adobe.com

In München-Schwabing ist ein Wohngebäude entstanden, das aufgrund der Verwendung von Stahlbeton-Fertigteilen, seiner Sichtbeton-Optik und dem Mobilitätsanspruch der Bewohner, sich ohne Auto fortzubewegen, ein besonderes Projekt ist. Das Baugruppen-Haus wurde 2015 fertiggestellt und hat dennoch nichts an Aktualität verloren.

Auszug aus:

Für ein zentral gelegenes Grundstück in Westschwabing wurde in einem Bewerbungsverfahren der Landeshauptstadt München die Baugruppe „Wohnen ohne Auto“ ausgewählt, die damit überzeugte, neben gemeinschaftlichem Wohnen ohne Auto auch einen hohen Energiestandard von KfW 55 einzuhalten. Die Initiative „Wohnen ohne Auto e. V.“ hatte schon in München-Riem zwei Wohnanlagen initiiert. Zentrales Thema neben dem konsequenten Autoverzicht ist die Rückeroberung der Stadt mit dem Rad. Die innerstädtische Lage nahe dem Olympiapark bietet dafür beste Voraussetzungen. Trotz „Wohnen ohne Auto“ musste entsprechend dem Bebauungsplan eine Tiefgarage errichtet werden. Diese dient heute dem umfangreichen Fahrradpark der Bewohner.

Baukörper

Entsprechend den Vorgaben des Bebauungsplans ergänzt das 5-geschossige Gebäude mit einer Grundfläche von 30 × 12,60 m die städtebauliche Figur als markanter Endpunkt zum angrenzenden Straßenbereich. Zusammen mit der benachbarten Baugruppe und Baugenossenschaft entsteht eine großzügige, nach Süden geöffnete Innenhofsituation.

FOTO: FLORIAN HOLZHERR

Lageplan
ZEICHNUNG: MÜHLBAUER + DELLER ARCHITEKTEN UND STADTPLANER

Wohnungsmix

Die Baugruppe bestand zu Planungsbeginn aus nurmehr 5 Parteien, deshalb musste das weitere Vorgehen eine flexible Strategie für die Bedürfnisse der zukünftigen Bewerber bieten. Sukzessive fanden sich gleichgesinnte Mitstreiter, um auch die verbleibenden Wohneinheiten zu belegen. Heute leben in 13 Wohnungen Münchner aus 6 Nationen, mit 16 Kindern, 50 Fahrrädern und 0 Autos. So individuell wie die Bauherren, waren auch deren Wünsche. Das spiegelt sich in einem Wohnungsmix aus Einzimmerappartements, 2– bis 3-Zimmer-
Wohnungen und großen Familienwohnungen mit bis zu 6 Zimmern wider.

Gemeinschaftsflächen

Die nach Westen erdgeschossig angelegten Privatgartenanteile sowie großzügige Balkone orientieren sich zum grünen Quartiershof, in dem alter Baumbestand mit Kletter- und Spielflächen und eine Streuobstwiese zur Selbstversorgung realisiert wurden. Die Gemeinschaftsdachfläche ist unterteilt in Liege- und Ruhezonen, Hochbeete und eine Freifläche für Filmabende, Treffen, Grillen und anderes mit Blick auf den nahezu greifbaren Olympiaturm.

Schnitt Gebäude, Tiefgarage und Dachgarten
ZEICHNUNG: MÜHLBAUER + DELLER ARCHITEKTEN UND STADTPLANER

Ein vielfältiger Wohnungsmix erfüllt individuelle Wünsche für die Wohneinheiten
GRAFIK: MÜHLBAUER + DELLER ARCHITEKTEN UND STADTPLANER

Grundrissgestaltung und partizipatives Entwerfen

Ein modulares Grundraster ermöglicht den Zuschnitt unterschiedlicher Wohnungstypen und -größen, stellt abtrennbare Bereiche für Veränderungen im Lebenszyklus der Bewohner bereit und erlaubte ihnen bereits in einer frühen Entwurfsphase, ihre individuellen Wohnungen in Workshops mit den Architekten „mitzustricken“. Das im Osten liegende Treppenhaus erschließt pro Geschoss 3 Wohneinheiten. Die beiden äußeren haben durchgesteckte Ost-West-orientierte Grundrisse, die innen liegenden sind nur nach Westen zur Hofseite gerichtet. Eine 3 m breite zuschaltbare Zone zwischen den Wohneinheiten ermöglicht unterschiedliche Wohnungsgrößen und im realisierten Zustand alternativ ein abtrennbares Appartement für Studenten bzw. Pflegehilfe im Alter.

Belebter Außenraum im grünen Innenhof nahe dem Olympiapark
FOTO: FLORIAN HOLZHERR

Im Grundriss ist das abtrennbare Apartment erkennbar.
ZEICHNUNGEN: MÜHLBAUER + DELLER ARCHITEKTEN UND STADTPLANER

Vorgefertigte Wandelemente mit integrierter Technik

Die Thermowand ist eine individuell gefertigte Doppelwand mit integrierter Dämmung. In die Außen- und Innenschale aus Beton ist die Bewehrung nach statischen Anforderungen vollständig integriert. Durch die Verfüllung des Hohlraums mit Ortbeton wird die Wand zu einem monolithischen Bauteil.

Die hochwertige Dämmung liegt geschützt zwischen den Betonschalen. Es stehen je nach Anforderung unterschiedliche Dämmmaterialien zur Verfügung. Die Dämmstärke beträgt 4 – 22 cm, je nach Material und Anforderung – Dämmwerte wie z. B. im Passivhaus sind leicht realisierbar. Durch die innen liegende Dämmung ist der Dämmstoff vor mechanischer Beschädigung und Feuer geschützt, selbst die Ausführung als Brandschutzwand ist möglich.

Die Elektrotechnik ist in der Wand bereits berücksichtigt. Sowohl die Innen- als auch die Außenwand verfügen über eine schalungsglatte, malerfertige Oberfläche – die beste Grundlage für die Veredelung der Fassaden zu schönstem Sichtbeton. Diese robuste Alternative zu konventionellen WDVS-Fassaden ermöglicht einen schnellen Baufortschritt und bezahlbare Betonoptik bei Innen- und Außenwänden.

Urige Küche trifft auf moderne Betonoberfläche.
FOTO: FLORIAN HOLZHERR

Aufbau eines Betonfertigteilelements (v. l. n. r.): betonierte Innenschale, Bewehrungsebene zur Verfüllung mit Ortbeton zur Tragwand, Kerndämmung, betonierte Außenschale
FOTO: GERMAN DELLER

Haustechnik

Das Gebäude wird mit städtischer Fernwärme versorgt. Die Fußbodenheizung in Verbindung mit einer kontrollierten Wohnraumlüftung mit hocheffizienter Wärmerückgewinnung sorgt für niedrige Verbrauchskosten (KfW 55 Standard).

Eingangsbereich an der Petra-Kelly-Straße
FOTO: FLORIAN HOLZHERR

Äußeres Erscheinungsbild

Die 13 individuell gestalteten Wohnungen spiegeln sich in der Fassadengestaltung wider. Die porenfreie, glatte, industrielle Oberflächenqualität der Außenwandelemente wurde nach Montage mit einer Hydrophobierung farblos endbehandelt. In Kontrast zum reduzierten äußeren Erscheinungsbild tritt das gemeinsam entwickelte Farbkonzept des Treppenhauses. Es wird durch die großen Verglasungen auch vom öffentlichen Bereich wahrgenommen.

Projektdetails


Bauherr
Baugruppe „Wohnen ohne Auto III“ (WoA III)
Wohnfläche insgesamt
1.303 m²
Architektur
ARGE German Deller + Walter Mühlbauer
Geschossfläche (ohne TG)
1.920 m²
Mitarbeit
Dipl.-Ing. Univ. Ruth Ludwig
Bauweise
Stahlbeton-Fertigteilkonstruktion
Planung und Realisierung
2011 – 2015
Baukosten
ca. 2.500 €/m² für KG 300+400
Anzahl der Wohnungen
13

„W ohnen ohne Auto III ist die Apnoe-Taucherin unter den Baugemeinschaften.“
Bauherrin und Bewohnerin Julia Zöller gibt Einblick in die Planung des Baugemeinschafts-Hauses. Sie lebt dort mit ihrem Partner und drei Kindern (15, 13 und 7 Jahre alt).

„Wir haben seit Neuestem eine blau-weißgestreifte Markise. Die Streifen sind sehr blau und sehr weiß. Ich persönlich finde sie sogar zu blau. Immer wenn ich jetzt in den Hof blicke, habe ich einen blau-weißen Rand in der Aussicht. Wir haben diese Markise gekauft, die mir nur mittelgut gefällt, um unseren Nachbarn gegenüber eine Freude zu machen. Die finden unser Haus nämlich immer noch ‚zu grau‘.

Sie freuen sich nicht über die Tetris-artige Gliederung der Fassade oder die weißen Fensterrahmen, auch nicht über das bunte Treppenhaus mit den gelben und roten Haustüren. Sie sehen vor allem den Beton. Neulich klebte morgens anonym ein Zeitungsartikel außen an der Scheibe im Erdgeschoss. Thema: Fassadenbegrünung. Ein anonymer Wink mit dem Zaunpfahl, der gar nicht unwillkommen war. Die Hausgemeinschaft plant eine Hausbegrünung, aus ökologischen Gründen. Was sie nicht plant, ist die Fassade anzustreichen. Die meisten Mitglieder unserer Baugemeinschaft haben den Beton nicht nur akzeptiert, sie leben gern mit und im Sichtbeton.

In unserer 5-Zimmer-Wohnung haben wir Sichtbeton im Wohn-Essbereich, im Elternschlafzimmer, im Flur und in einem Bad. Gerade diese Wände sind für uns mehr als ein Trennelement. Sie überbringen geduldig Kreide-Botschaften („Komme heute später“), dienen als Vokabel-Abfrage-Tafeln und sogar als Leinwand für Geburtstags-Überraschungs- Bilder. Sie altern in Würde, im Gegensatz zu den weiß gestrichenen Mit-Wänden, und ihre Fehler und Flecken erinnern uns daran, dass wir sie auf der Baustelle regelrecht verteidigen mussten gegen Sprüh-Farbe, Klebebänder und Bohrmaschinen der Handwerker („Wie, die sollen so bleiben. Mit Absicht?“). 2014 war Sichtbeton noch nicht so verbreitet.

Baugemeinschaften brauchen einen sehr langen Atem, WoA III ist quasi die Apnoe-Taucherin unter ihnen. 2011, als für mich und meinen Partner alles begann, hatte das Kernteam von WoA III schon jahrelang Vorarbeit geleistet, und mit einem guten Konzept und Losglück das Grundstück ergattert. Dann galt es, Behörden und Banken davon zu überzeugen, dass wir A ein Mehrfamilienhaus bauen können, obwohl wir 13 Einzelparteien sind, und B noch dazu keine Autos haben und auch nicht beabsichtigen, welche zu kaufen.

Baugemeinschaft – und dann auch noch ohne Auto! Wirklich ohne Auto. Kein Mensch konnte glauben, dass wir das durchhalten. Zwar gab es, wie der Name Wohnen ohne Auto III verrät, schon zwei Vorgängerprojekte, trotzdem zierten sich die Genehmigungsbehörden, den Stellplatzschlüssel entsprechend zu reduzieren. Nach beharrlicher Nachfrage und einem selbst entworfenen Mustervertrag zur Autofreiheit, gelang es dann doch, fünf Stellplätze zu streichen. So gehört zu unserem Haus heute eine hochwertige Tiefgarage mit Platz für acht Pkw-Parkplätze. Auf ihnen stehen nun in langen Reihen Fahrräder und Anhänger aller Art. Einmal im Jahr versammeln wir uns mit Wasserschlauch und Schrubbern in der Garage und reinigen den gelb gestrichenen Boden von den Bremsspuren der Räder. Manchmal ist sogar ein bisschen Kettenöl dabei. Danach haben wir die einzige Garage Münchens, in der man vom Boden essen könnte. Kleiner Trost angesichts der hohen Kosten, die unsere Luxus-Fahrradgarage verursacht hat.

Aus der Baugemeinschaft WoA III ist mittlerweile eine Hausgemeinschaft geworden. Wenn ich heute an die ersten Monate im neuen Haus zurückdenke, verhielten wir uns ganz anders als bei den Umzügen zuvor. Wir kannten uns ja alle schon seit Jahren, weil wir uns einmal die Woche für mindestens drei Stunden zu Baugemeinschafts-Sitzungen getroffen hatten. Die Schnupperphase ist einfach ausgefallen.

Einig sind wir uns darin, dass wir ein sehr besonderes Haus haben, das sehr gut zu uns passt. Jede Wohnung ist genau so, wie sich ihre Bewohner eine ideale Wohnung vorstellen. Und der gemeinsame Dachgarten grenzt schon an Luxus. Wenn wir im Sommer im ersten Stock unter unserer blau-weißen Markise sitzen und in den grünen Innenhof schauen, wissen wir, dass wir im teuren München geradezu rivilegiert wohnen.

Trotzdem bin ich froh, dass die Baugemeinschaft Geschichte ist. Ein Leben als Baugemeinschafts-Pionierin ist extrem horizonterweiternd, und seit dem Abitur hatte ich nie wieder eine so steile Lernkurve. Aber Pioniere leisten eben auch Pionierarbeit. Und Baugruppe in Eigenregie, mit 13 Parteien ohne Auto, das mache ich persönlich genau einmal im Leben. So spannend die Zeit auch gewesen ist.“

Sichtbeton als Kreide-Leinwand für kleine Künstler
FOTO: FLORIAN HOLZHERR

Der Autor


Walter Mühlbauer, German Deller, Ruth Ludwig
Mühlbauer + Deller
Architekten und Stadtplaner Das Büro deckt mit umfassenden Kompetenzen und langjährigen Erfahrungen das gesamte Leistungsspektrum der Architektur und Stadtplanung ab. Dazu gehören individuelle Ein- und Mehrfamilienhauskonzepte, Geschosswohnungs- und Industriebau sowie der Bau von öffentlichen Einrichtungen. Neben der Projektentwicklung gewinnt die Fachkompetenz zu Beteiligungsprozessen und die Tätigkeit als Gutachter für Grundstücks- und Gebäudebewertung sowie als Sachverständiger zur Bauteil- und Prozessoptimierung zunehmend an Bedeutung und gewährleistet einen hohen Qualitätsanspruch.

Dieses breit gefächerte Portfolio hat sich anhand von über 250 Aufgaben entwickelt. Bei Themen wie Nachhaltigkeit und Energie war das Büro mit dem Bau von Passivhäusern und Plus-Energie-Konzepten der Zeit einen Schritt voraus. Der Einfluss einer sich verändernden, alternden Gesellschaft in einem prosperierenden Umfeld wurde in einer Forschungsarbeit untersucht und Beispiele in unterschiedlichen Wohnungsbaumaßnahmen realisiert.

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