Zertifizierung von Quartieren: Auf Nachhaltigkeit geprüft

Zertifizierung von Quartieren: Auf Nachhaltigkeit geprüft

Städtebau & Quartiersentwicklung

Zertifizierung von Quartieren: Auf Nachhaltigkeit geprüft

Text: Felix Jansen | Foto (Header): © AURELIS REAL ESTATE GMBH & CO. KG

Im Gebäudebereich hat sich das Prinzip der Nachhaltigkeitszertifizierung in den vergangenen zehn Jahren in Deutschland immer mehr etabliert. Auch bei der Quartiersentwicklung gewinnt das Verfahren zunehmend an Relevanz und Beliebtheit. Führend ist dabei das System der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen, kurz DGNB.

Auszug aus:

Wer meint, dass es bei der Zertifizierung nur um die werbe- und öffentlichkeitswirksame Vermarktung oder die Imagesteigerung eines Projekts geht, greift deutlich zu kurz. Die Zielsetzung, die die DGNB auch in ihrer Rolle als Non-Profit-Organisation verfolgt, geht weiter. Es geht darum, für die Notwendigkeit eines nachhaltigen Umgangs mit der gebauten Umwelt zu sensibilisieren. Und – mindestens genauso wichtig – eine solche nachhaltige Bauweise auch praktisch anwendbar zu machen.

Zertifizierung als integrales Planungstool

Ein zentraler Schlüssel, damit dies in der Planung und im Bau tatsächlich gelingen kann, liegt in einer gemeinsamen Wissensgrundlage über die zentralen Anforderungen, die eine nachhaltige Bauweise mit sich bringt. Je früher im Planungsprozess man die relevanten Akteure mit ihren unterschiedlichen Hintergründen, Wissensständen und Erwartungen zusammenbringt und gemeinsame Ziele im Sinne der Nachhaltigkeit eines Projekts festlegt, desto größer sind die Erfolgschancen, dass dies auch praktisch gelingt.

Nachhaltigkeit kann im Sinne der DGNB synonym mit Zukunftsfähigkeit und Qualität verstanden werden. Dabei zeichnen sich zukunftsorientierte Quartiere dadurch aus, dass sie einen ressourcenschonenden Bau und Betrieb mit einer hohen Aufenthalts- und Lebensqualität verbinden – mit langfristiger Perspektive und im gesamten Quartier. Dieser Anspruch erfordert eine vorausschauende, umfassende und transparente Planung.

Genau hier kann das Prinzip der Zertifizierung wertvolle Hilfe leisten. Kommunen, Planer und Projektentwickler werden systematisch dabei unterstützt, sämtliche Aspekte der Nachhaltigkeit schon frühzeitig in ihrem Planungsprozess zu berücksichtigen. Der Bereich zwischen den Gebäuden wird dabei genauso betrachtet wie der Quartiersstandort sowie übergeordnete Konzepte für den Umgang mit Energie, Wasser und Abfall. Die einzelnen Gebäude selbst müssen übrigens nicht zertifiziert sein und werden nur mit Basiswerten in der Bewertung berücksichtigt.

Bis 2021 soll die Bebauung im Spinnereipark Kolbermoor fertiggestellt werden, bei deren Planung und Ausrichtung der Gebäude darauf geachtet wurde, dass möglichst viele Bestandsbäume erhalten bleiben.
FOTO: BEHNISCH ARCHITEKTEN

Die Kriterien zur Zertifizierung lassen sich in fünf Themenfelder einteilen
GRAFIK: DGNB

30 Kriterien für mehr Nachhaltigkeit

Die Grundlage der Zertifizierung bilden die rund 30 Kriterien, die in der aktuellen Version des DGNB Systems für Stadtquartiere adressiert werden und sich auf fünf verschiedene Themenfelder verteilen. Über den gesamten Lebenszyklus eines Quartiers hinweg werden Aspekte wie die ökonomische, ökologische, soziokulturelle und technische Qualität betrachtet und gleichgewichtet beurteilt. Die Prozessqualität eines Projekts wird im Zertifizierungssystem der DGNB ebenfalls bewertet.

Aus ökologischer Sicht geht es um emissionsbedingte Umweltwirkungen, um den Ressourcenverbrauch genauso wie um Biodiversität, das Stadtklima, die Flächeninanspruchnahme, Wasserkreislaufsysteme sowie die Vermeidung von Umweltrisiken. Ökonomisch adressiert die Zertifizierung die Lebenszykluskosten des Quartiers, die Resilienz und Wandlungsfähigkeit, die Flächeneffizienz sowie die Wertstabilität. Aus soziokultureller und funktionaler Sicht werden beispielsweise der Freiraum, der thermische Komfort sowie die Emissionen und Immissionen angesprochen. Hinzu kommen Aspekte wie Barrierefreiheit, Städtebau, die soziale und funktionale Mischung sowie die soziale und erwerbswirtschaftliche Infrastruktur.

Aus technischer Sicht geht es um die Energieinfrastruktur, das Wertstoffmanagement, die „Smart Infrastructure“ sowie die Mobilitätsinfrastruktur, sowohl in Bezug auf den motorisierten als auch den nichtmotorisierten Verkehr. Hinzu kommen fünf Kriterien, die der Prozessqualität zugeordnet sind: Integrale Planung, Partizipation, Projektmanagement, Governance und Monitoring.

Transparenter Qualitätsnachweis

Das DGNB System ist in seiner ganzheitlichen Betrachtung von Nachhaltigkeit einzigartig und unterscheidet sich grundlegend von anderen am Markt verfügbaren Bewertungstools. Ein Beispiel: Beim DGNB System werden nicht einzelne Maßnahmen bewertet, sondern anzustrebende Leistungsziele definiert. Der Lösungsweg dahin bleibt weitgehend flexibel, wodurch innovative Ansätze nicht durch starre Vorgaben unnötig gebremst werden.

Die Anwendung des Zertifizierungssystems ermöglicht Transparenz, Qualitätskontrolle und Planungssicherheit – vom Projektbeginn bis zur Realisierung des Quartiers. Mit seinen Kriterien bildet das Bewertungssystem alle relevanten Einflussfaktoren ab und macht Kosten und Nutzen über den gesamten Lebenszyklus sichtbar. Dabei zeichnet sich ein nachhaltig geplantes und gebautes Quartier nicht nur durch ein Plus an Komfort und Lebensqualität aus. Es kann auch zu einer Wertsteigerung führen, wenn Aspekte wie Ressourcenverbrauch, Mobilität und die Bedürfnisse der späteren Nutzer von Anfang an effizient miteinbezogen werden.

Nicht zu unterschätzen ist, dass das DGNB System auch als Kommunikationswerkzeug eingesetzt werden kann. Denn es gibt den am Projekt beteiligten Akteuren zum einen genau die Themen an die Hand, die sie angehen sollten, wenn sie gemeinsam den Nachhaltigkeitsweg beschreiten wollen – in der Entwurfsphase genauso wie in der Planungs- und Erschließungsphase. Und es kann zum anderen auch dabei helfen, Bewohner oder Nutzer frühzeitig und transparent über die eigenen Planungsziele zu informieren oder sie sogar in Entscheidungsprozesse mit einzubinden. Ein wichtiger, identifikationsstiftender Faktor insbesondere bei Quartieren, bei denen das Miteinander immer im Fokus steht.

Das Quartier „Spandauer Ufer“ steht durch seine typisch berlinerische Mischnutzung mit Wohnen, Gewerbe, Hotel, Büroflächen, Cafés, Restaurants und Einzelhandel für höchste Lebens- und Arbeitsqualität.
FOTO: ASTOC/PLAY-TIME

„Think K“ in Stuttgart Killesberg wurde mit dem DGNB Zertifikat in Platin ausgezeichnet.
FOTO: FÜRST DEVELOPMENT GMBH

Über 50 ausgezeichnete Projekte

Bislang hat die DGNB weltweit über 50 Quartiersprojekte auszeichnen können – für fertiggestellte Quartiere mit einem DGNB Zertifikat in Platin, Gold oder Silber, für Quartiere in der Planungs- oder Erschließungsphase mit einem DGNB Vorzertifikat. Neben Stadtquartieren handelt es sich dabei auch um Gewerbequartiere, Industriestandorte und seit Kurzem um Vertical Cities, Resorts und Event Areale Zu den Projekten zählen unter anderem der Potsdamer Platz in Berlin, die Killesberghöhe in Stuttgart, das Europaviertel West in Frankfurt oder Le Quartier Central in Düsseldorf. Weitere Projekte in Deutschland, die sich derzeit in der Umsetzung befinden und mit einem DGNB Vorzertifikat ausgezeichnet wurden, sind Zukunft Nord in Karlsruhe, der Neckarbogen in Heilbronn oder die Siedlung Westend, das Spandauer Ufer oder Waterkant in Berlin. International gab es z. B. DGNB Auszeichnungen für die Quartiere Nordhavn in Kopenhagen und Cloche d’or in Luxemburg oder das Aeschbachquartier in Aarau. In der Mongolei entsteht mit der Maidar Eco City in den kommenden Jahren eine komplette Stadt, die nach den Anforderungen der DGNB Zertifizierung mit entwickelt wurde. Die Nachnutzung des Flughafens Berlin Tegel, ein Forschungs- und Industriepark  für urbane Technologien mit dem Namen „Berlin TXL – The Urban Tech Republic“, wurde für seine Planung nach den Prinzipien der DGNB ebenfalls prämiert.

Imagesteigerung und höhere Projektqualität

In einer 2018 durchgeführten Umfrage hat die DGNB erhoben, welche Mehrwerte sich für die jeweiligen Projekte aus der nachhaltigen Planung und Umsetzung sowie der Zertifizierung ergeben haben. Die Erhebung richtete sich dabei an alle bisherigen Auftraggeber, DGNB Auditoren und beteiligte Planer.

Bei der Frage nach den Gründen für die Durchführung der Zertifizierung gaben über 70 % der Befragten an, dass es ihnen um die Imagesteigerung ging. Die Steigerung der Projektqualität stand für über 60 % im Fokus. Die übrigen Antworten auf diese Frage verdeutlichen, wie unterschiedlich, projektindividuell und vielfältig die Motivationen zur Durchführung einer Zertifizierung sind. Jeder Dritte gab an, dass es um bessere Verkäufe und Vermietungen geht, mehr als jeder Vierte gab an, einen Beitrag zur Erreichung der Klimaschutzziele leisten zu wollen.

Auch eine höhere Nachfrage, der Wunsch nach mehr Transparenz sowie die Nachfrage des Marktes wurden genannt. Nicht primär relevant waren dagegen geringere Kosten oder bessere Finanzierungskonditionen.

Das Aeschbachquartier in Aarau wird als erstes Quartier in der Schweiz nach den Kriterien der DGNB entwickelt.
FOTO: DOMINIQUE MEIENBERG

Auch Industriestandorte werden zertifiziert, wie hier Berlin TXL – The Urban Tech Republic.
FOTO: ANDREAS SCHIEBEL

Wertsteigerung von Immobilien

Eine Frage der Untersuchung, die sich ausschließlich an die Teilnehmer richtete, deren Projekt bereits realisiert wurde, beschäftigte sich mit dem Mehrwert, der durch den Zertifizierungsprozess für das Projekt tatsächlich erreicht wurde. Gleich 80 % gaben an, eine Wertsteigerung der Immobilien erzielt zu haben. Immerhin 40 % konnten im Nachgang der Zertifizierung eine höhere Zufriedenheit der Nutzer identifizieren. Optimierte Konzepte zur Energieversorgung, eine verbesserte Wasserversorgung, eine bessere Umweltqualität sowie übergeordnet eine Optimierung der Planung wurden ebenfalls von 40 % der Befragten als Mehrwerte der Zertifizierung genannt.

Die geschätzte Kostensteigerung durch die Projektzertifizierung im Vergleich zur den gesamten Projektkosten lag bei unter einem Prozent. Oder anders formuliert: Die Mehrkosten einer Quartierszertifizierung fallen nur bedingt ins Gewicht. Demgegenüber steht eine durchschnittliche Steigerung des Verkaufserlöses pro Quadratmeter Bruttobauland von 3,50 Euro. Und auch bei der Vermietbarkeit gibt es nach Angaben der Umfrageteilnehmer einen deutlichen Mehrwert durch die Zertifizierung. Demnach seien durchschnittlich 12 % höhere Mieten bei zertifizierten Projekten möglich.

Dass die DGNB Zertifizierung als sinnvolles Tool für die Quartiersplanung angesehen wird, wird auch deutlich, wenn man betrachtet, wie viele erneut eine Zertifizierung durchführen würden. Gleich 92 % stimmten dem zu.

Weiterentwicklung

Aktuell arbeitet die DGNB intensiv an einer neuen Version des Zertifizierungssystems für Quartiere. Diese wird für alle unterschiedlichen Quartierstypen anwendbar sein, also neben Stadt- und Wohnquartieren beispielsweise auch für Gewerbegebiete, Geschäftsviertel und Industriestandorte. Im Laufe des Jahres soll es eine erste Erprobungsphase geben, bei der sich Marktteilnehmer mit Erfahrung in der Zertifizierung an einer Kommentierung beteiligen können. Auf dieser Grundlage soll das neue DGNB System für Quartiere bis Anfang 2020 finalisiert werden.

Inhaltlich werden wichtige Themen wie z. B. die Klimafolgenanpassung oder die Circular Economy, also der vorausschauende Umgang mit Ressourcen im Sinne einer Wiederverwertung und Kreislaufführung, noch stärker adressiert und entsprechende Maßnahmen gefordert. Passend dazu werden auch bei Quartieren die in der Gebäudezertifizierung bereits neu verankerten Boni eingeführt. Hierbei wird mit Zusatzpunkten in der Zertifizierung explizit belohnt, wer mehr macht in puncto Klimaschutz und Ressourcenschutz.

Ebenfalls neu wird das Instrument der Innovationsräume sein. Diese ermöglichen eine alternative Nachweisführung in einzelnen Kriterien. Anders formuliert: Wer zu den in den Kriterien formulierten Anforderungen einen neuartigen Lösungsansatz für sein Projekt wählt, kann sich dies bei der Zertifizierung in gleichem Maße anrechnen lassen – zumindest, wenn dies nachvollziehbar zum gleichen oder besseren Effekt für  das Projekt führt.

Letztlich wird in der neue Fassung im Kriterienkatalog auch der Bezug der einzelnen Kriterien zu den 17 Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen herausgestellt. Für Bauherren bietet sich dabei die Gelegenheit, ihren in dem Projekt umgesetzten Beitrag zu den globalen Nachhaltigkeitszielen kommunikativ hervorzuheben.

Der Autor


Felix Jansen
Studium: 2000 – 2006 Angewandte Kommunikations- und Medienwissenschaften an der Universität Duisburg-Essen (Abschlüsse: Bachelor und Master)

Berufsweg:
2006 – 2007 Junior Kommunikationsmanager (PR-Agentur Brandzeichen in Düsseldorf)
2007 – 2010 Referent Technologiemarketing für Zukunftsforschungsprojekt FAZIT (MFG Baden-Württemberg – Innovationsagentur für IT und Medien, Stuttgart)
2011 – 2012 Referent für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit (Exzellenzcluster SimTech, Universität Stuttgart)
2012 – 2014 Head of External Communications (GFT Technologies, Stuttgart, u. a. für Start-up-Initiative CODE_n)
seit 01.01.2015 bei der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen – DGNB e. V., zunächst als PR-Referent, aktuell Abteilungsleiter PR, Kommunikation und Marketing)

www.dgnb.de

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