Im Gespräch mit Volker Schopp
Für die Gemeinschaft
Text: Julia Ciriacy-Wantrup | Foto (Header): © Georg Aerni
Foto: Weberbrunner Architekten
Auf der Fläche ihrer ehemaligen Zimmerei hat die Winterthurer Familie Hagmann ein außergewöhnliches Projekt verwirklicht: Seit Frühjahr 2018 wohnen 122 Menschen im autoarmen Hagmann-Areal, das neben 50 Wohnungen u. a. auch eine Sauna, Gewerbe-, Gemeinschafts- und Jokerräume beherbergt. Wir sprechen mit Volker Schopp von weberbrunner architekten über die verschiedenen Aspekte der Nachhaltigkeit bei diesem Projekt.
Auszug aus:
QUARTIER
Ausgabe 6.2023
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Herr Schopp, wie ist es zu Ihrer Beteiligung an diesem besonderen Projekt gekommen?
Unser Büro hat zusammen mit soppelsa architekten am ausgeschriebenen Wettbewerb teilgenommen und konnte diesen gewinnen. Ich habe ab der Phase Bauprojekt die Projektleitung und später in der Realisierung auch die örtliche Bauleitung übernommen. Nach Möglichkeit versuchen wir, bei unseren Projekten immer selbst die Bauleitung zu übernehmen, was in der Schweiz nicht unbedingt üblich ist. Im Regelfall wird die Bauleitung von externen Baumanagementbüros ausgeführt. Für uns ist das aber ein wichtiges Instrument, die Qualität bis am Ende in den eigenen Händen zu haben.
Bei der Wohnbebauung auf dem Hagmann-Areal stand die ganzheitliche Umsetzung von Nachhaltigkeit an erster Stelle. Welche Aspekte haben Sie bei der Planung vor besondere Herausforderungen gestellt?
Die Ziele der Bauherrschaft haben sich glücklicherweise weitgehend mit unserer Philosophie des miteinander Planens und Bauens gedeckt. Einer der entscheidenden Punkte, um die Jury beim Wettbewerb zu überzeugen, war es, die ehemalige Zimmerei als Gewerbehaus zu erhalten und mit dem Neubau als Ensemble zu kombinieren. Dazu mussten wir Wege finden, wie wir die dadurch höhere räumliche Dichte ortsverträglich gestalten konnten. Die geforderte Suffizienz in Bezug auf den Pro-Kopf-Flächenverbauch der Bewohnenden war für uns eine willkommene Herausforderung. Es galt, die knapp bemessenen Wohnungen geschickt mit gemeinschaftlich genutzten Zusatzangeboten zu kombinieren. So konnte die besondere Wohnqualität an diesem Ort um den Hof entstehen.
Eine Holzfassade zu entwickeln, welche robust konstruiert ist und eine lange Lebensdauer verspricht, in Kombination mit den Anforderungen des Brandschutzes, war eine der besonderen Herausforderungen.
Das Gebäude ist in Holz-Beton-Hybrid-Bauweise errichtet. Weshalb fiel die Wahl auf diese Konstruktionsmaterialien?
Grundsätzlich ging es uns darum, auch im Rohbau den Verbrauch an grauer Energie und CO₂ durch den Einsatz von Holzbauteilen zu reduzieren. Die Ausführungsplanung wurde hauptsächlich zwischen 2014 und 2016 erstellt, und damals war ein reiner Holzbau in dieser Größe in Bezug auf Konstruktion, Brand- und Schallschutz noch nicht so gut erprobt wie heute. Deshalb haben wir uns für einen Hybridbau mit Decken, Wohnungstrennwänden und Treppenhäusern aus Beton sowie Tragstützen und Außenwänden aus Holz entschieden. Die Außenzimmer, die Balkonschicht auf der Hofseite und alle Fassadenbekleidungen sind ebenfalls aus Holz. Mit Christian Hagmann, den ich immer noch regelmäßig privat treffe, habe ich schon oft darüber gesprochen, dass wir beim nächsten Projekt in jedem Fall einen reinen Holzbau erstellen würden. Heute würden wir hier keinen Moment mehr zögern – beide.
Welche Vorgaben und Wünsche gab es in Hinblick auf die Energieversorgung?
Die Stadt Wintherthur hat parallel zu unserem Projekt einen neuen Nahwärmeverbund mit Waldholz als Energieträger aufgebaut. Die Heizzentrale ist nur wenige hundert Meter vom Areal entfernt, weshalb von Anfang an klar war, dass das Hagmann-Areal an diesen Verbund angeschlossen werden soll. Ergänzt wurde die Energieversorgung durch eine PV- und Solaranlage auf dem Dach des 6-geschossigen Baukörpers. Der hier produzierte Strom wird größtenteils im Haus verbraucht. Neben dem Allgemeinstrom für Beleuchtung, Lift und Lüftung werden auch die gemeinschaftlichen Wasch- und Trockenräume mit dem Solarstrom versorgt.
Wie hat die Wahl und Ausgestaltung des Fassadenmaterials den Planungsgedanken und das Konzept der Nachhaltigkeit unterstützt?
Im Wettbewerbsbeitrag hatten wir noch eine keramische Fassadenbekleidung vorgeschlagen. Dies, weil Bauträger in der Regel skeptisch auf Holzfassaden reagieren und es immer noch Vorbehalte hinsichtlich Dauerhaftigkeit gibt. Hagmanns als „hölzige“ Familie mit dem Hintergrund der Zimmerei, hatte diese Vorbehalte nicht. Deshalb haben wir uns im Planungsprozess gemeinsam für eine Holzschalung entschieden, welche nochmals deutlich Erstellungsenergie und Treibhausemissionen einspart. Richtig konstruiert hält diese auch sehr lang, wofür das alte Zimmereigebäude auf dem Areal Pate stand. Die Farbgebung der Außenfassade ist ebenfalls an den bestehenden Gewerbebau angelehnt.
Auch im sozialen Bereich sollte sich die Nachhaltigkeit widerspiegeln. Welche Aspekte betraf dies und wie stellten Sie z.B. sicher, dass die Wohnungen dauerhaft unterschiedliche Haushaltsgrößen und Wohnansprüche abdecken können
Für diesen Aspekt haben wir uns an Elementen verschiedener Genossenschaftsbauten in Zürich bedient. Die verhältnismäßig kleinen Wohnungen werden durch gemeinschaftliche Zusatzangebote (Gemeinschaftsraum, Sauna, Hausbar, Hof) ergänzt. Dies macht die Wohnungen bezahlbar, aber trotzdem sehr attraktiv. Außerdem haben wir sogenannte Zusatzzimmer eingeführt, die von den Bewohnenden langfristig oder auch nur für einen kurzen Zeitraum gemietet werden können. So kann auf sich ändernde Umstände reagiert werden, ohne leerstehende Zimmer, wenn z.B. ein Kind auszieht. Einige Zusatzzimmer, die im Erdgeschoss dem Hof zugewandt sind, sind auch an Externe vermietet, was wiederum zur guten Durchmischung und Einbindung ins Quartier beiträgt. Durch alle diese Maßnahmen wird die klassische private Wohnung erweitert: Vor der Wohnungstür werden Räume gemeinschaftlich genutzt. Dies führt zu einer hohen Identifikation mit dem Lebensraum bei gleichzeitig ressourcenschonenderen Lebensweisen durch teilen.
Bei der vorgelagerten, durchgehenden Veranda im Innenhof gibt es keine festen Abgrenzungen zwischen den Wohneinheiten. War es Ihre Intention, dadurch die Verbundenheit und den Gemeinschaftssinn auf dem Areal aufzugreifen bzw. welche Funktion soll die Veranda erfüllen?
Das ist eine sehr häufig gestellte Frage, mit der wir so nie gerechnet hätten. Die Frage der Abtrennung haben wir mit der Bauherrschaft intensiv diskutiert, da wir es alle schade fanden, die Verandaschicht zu unterteilen. Wie so oft konnten wir uns auf eine einfache und pragmatische Lösung einigen: Wir haben eine Abtrennung geplant, diese aber nicht gebaut. Christian Hagmann, der selbst in der Siedlung lebt und die Verwaltung übernommen hat, hat beobachtet, ob es deswegen zu Beschwerden oder Konflikten kommt. Erst später sollte die Abtrennung situativ nachgerüstet werden. Bis heute gibt es keine dieser Abtrennungen. Hier und da gruppieren sich Blumentöpfe an den entsprechenden Stellen etwas dichter oder es gibt ein Bänkli. So bleibt die Veranda ein Kommunikationsraum, in dem die Bewohnenden nebeneinander oder über den Hof hinweg miteinander plaudern können
Wie kam es zur Entwicklung der Balkontürme als Außenzimmer?
Der Gedanke war, der nach außen gewandten Fassade eine starke Rhythmik zu geben. Übereinanderliegende Balkone tun das ein Stück weit auch, aber die Außenzimmer mit ihren raumbildenden Umfassungen verstärken diesen Ausdruck nochmals deutlich. Für uns war auch der Kontrast der dunklen, sägerauen Außenfassade zur hellen, holzfarbenen Innenhoffassade reizvoll. Neben dem gestalterischen Aspekt wollten wir auch private Außenräume schaffen, die über den größten Teil des Jahres genutzt werden können. Die schienengeführten ZIP-Storen, die das Außenzimmer gegen Windzug, Schlagregen und Insekten schützen, leisten hierzu einen wertvollen Beitrag. So wird das Außenzimmer zu einer für die Bewohnerinnen und Bewohner dauerhaft nutzbaren Erweiterung der Wohnung, die über die Nutzung eines Balkons hinausgeht. Baurechtlich sind die Außenzimmer übrigens Balkone, da ihre Öffnungen unter 50% der Wandflächen betragen.
Das Areal liegt in direkter Nachbarschaft zum örtlichen Bahnhof. Wie hat das Ihre Planungen in Bezug auf die Mobilitätsangebote beeinflusst?
Die Grundlage für die Bewilligung der weitgehend autofreien Siedlung bildete das Mobilitätskonzept, in welchem die Reduktion der geforderten Mindestzahl an Parkplätzen hergeleitet und begründet wurde. Für dieses Konzept stellte die direkte Lage am Bahnhof Seen mit der Anbindung an den Bus- und S-Bahnverkehr einen sehr wichtigen Baustein dar. Zusammen mit dem Carsharing-Angebot und den über 150 im Haus untergebrachten Fahrradparkplätzen konnte der Nachweis für ein sehr gutes Mobilitätsangebot erbracht werden. Wie oben schon erwähnt, war gerade der Aspekt der reduzierten Parkflächen und die Vermeidung einer Tiefgarage für uns als Planungsbüro besonders reizvoll, da sich das mit unserem Verständnis eines verantwortungsvollen Umgangs mit nicht nachwachsenden Ressourcen deckt. Für die Bauherrschaft stellte dieser Punkt ein wichtiges Identifikationsmerkmal ihrer Siedlung dar. Das, obwohl es die Vermietung der Wohnungen nicht gerade vereinfacht hat.
Das Hagmann-Areal ist in vielen Bereichen ein besonderes und einzigartiges Projekt. Welche Aspekte könnten trotzdem als Vorbild für andere Bauvorhaben dienen?
Vorbildhaft ist für mich vor allem die Bauherrschaft, die Mut, Großzügigkeit und Fantasie gezeigt hat. Den Mut, einen Weg zu verfolgen, auch wenn dafür oberflächlich betrachtet unpopuläre Entscheide, wie beispielsweise die Autofreiheit, getroffen werden müssen. Mutig zu sein, einen fairen Umgang mit seinen Vertragspartnern zu pflegen und darauf zu vertrauen, dass diese Fairness nicht ausgenutzt, sondern zurückgegeben wird. Das bedeutet z.B. auch, bei der Auftragsvergabe nicht das vermeintlich kostensichere GU-/TU-Modell zu wählen, sondern die Arbeiten einzeln und vorzugsweise an lokale Unternehmen zu vergeben, ohne den letzten Franken aus den Offerten zu pressen. Dieser faire Umgang wird mit hoher Motivation und Ausführungsqualität belohnt. Noch nie hatten wir so wenige Regiestunden und Nachträge wie hier. Großzügig zu sein und die Rendite nicht über alles zu stellen. Hagmanns war bewusst, dass sie mit dem geerbten Landbesitz in einer sehr privilegierten Position waren und ihr Ziel war es, einen lebenswerten Ort zu schaffen und der Gesellschaft so etwas zurückzugeben. Schlussendlich wird auch das von den Bewohnern durch sorgfältigen Umgang und lange Mietverhältnisse gedankt. Nicht zuletzt auch, Fantasie zu haben, wie Lebensorte auch noch anders und vielleicht auch zukunftsfähiger gestaltet werden können