Im Gespräch mit Anke Borcherding
Zukunftsfähige Mobilitätskonzepte in der Stadtplanung
Text: Christina Blümel | Foto (Header): © azureus70 – stock.adobe.com
FOTO: CONSTANZE WENIG (FRÄULEIN FOTOGRAF)
Nachhaltige Mobilität ist derzeit in aller Munde. Das 9-Euro-Ticket hat im Sommer für Wirbel gesorgt, und auch das Tempolimit auf deutschen Straßen ist immer wieder im Gespräch. Doch mit welchen zukunftsweisenden Mobilitätskonzepten kann die Mobilitätswende wirklich gelingen? Darüber haben wir mit Anke Borcherding, Mobilitätsforscherin am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, gesprochen.
Auszug aus:
QUARTIER
Ausgabe 6.2022
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Frau Borcherding, wie hat sich das Zusammenspiel von Mobilität und Stadtplanung in den letzten Jahrzehnten geändert?
Im Großen und Ganzen hat sich das Zusammenspiel leider gar nicht viel geändert. Es werden noch immer Autobahnen gebaut – in Berlin sogar bis in die Innenstadt hinein, auf der Grundlage von Planungen aus den 1960er-Jahren. Umgehungsstraßen sollen durch Waldgebiete führen, und noch immer entstehen Siedlungen an Stadträndern mit Haus, Grundstück, Straße und Parkplatz – das war’s. Vielleicht wird Tempo 30 angeordnet, aber es wird keine Nutzungsmischung geplant, die Straße wird für das Auto gedacht, und das Arbeiten findet woanders statt. Alles wird funktional getrennt. Daraus entsteht Zersiedelung, auch mit ökologischen Folgen. Es gibt dann vielleicht einen Bus für die Schulkinder und einen Fahrdienst für die Senioren, aber es gilt noch immer: Wer Straßen säht, erntet Autos, und wer solche Siedlungen baut, braucht Straßen und denkt Autos immer zentral mit. Ausnahmen bestätigen bis heute leider nur diese Regel. Dabei müsste das Leitbild die Mischung von Funktionen und Nutzen sein, um Verkehr zu vermeiden. Das ist irgendwie misslungen. Die autogerechte Stadt ist Realität. Das Auto hat sich in unseren Köpfen eingenistet.
Ein zentrales Thema unserer Zeit ist der Klimaschutz und die Notwendigkeit der Energiewende. Zukunftsfähige Mobilitätskonzepte sind ein wichtiger Baustein, um dieses Ziel voranzubringen. Wie können gut durchdachte Mobilitätskonzepte dazu beitragen, unseren CO₂-Abdruck zu verringern?
Da kann es nur einen Weg geben: viel weniger Autos und keine privaten Autos. Emissionsfreie Antriebe und geteilte flexible Angebote. Mobilitätskonzepte ohne dieses Ziel werden ökologisch nichts bewegen. Auch die öffentlichen Verkehrsmittel brauchen eine andere Rolle. Aktuell trennen wir Mobilität noch. Privat sitzt man im Auto, meistens allein. Öffentlich teilt man sich ein Großgefäß. Zu bestimmen hat man hierbei allerdings nichts: nicht die Zeit, nicht den Weg, nicht die Kosten und nicht die Gesellschaft. Zwischen privater und öffentlicher Mobilität klafft eine riesige Lücke. Das klimaschädliche Auto und der klimafreundlichere öffentliche Verkehr sind zwei getrennte Welten. Diese Welten müssen zusammengedacht werden. Das private Auto wird öffentlich und der öffentliche Verkehr wird privat. Der Vorteil des Autos, Eigenraum und Eigenzeit, wird losgelöst vom Besitz, und alle dürfen mitfahren und wird somit zum öffentlichen Verkehrsmittel, der sich wiederum von seiner starren Praxis verabschiedet und sich für die Nachfrage interessiert, statt ein Angebot vorzusetzen, das immer weniger gewollt wird. Ein durchdachtes Mobilitätskonzept besteht also aus weniger Fahrzeugen, welche besser ausgelastet sind und natürlich keinen Verbrennungsmotor besitzen.
Gleichzeitig sollen zukunftsfähige Mobilitätskonzepte auch noch sozial gerecht sein. Wie kann diese Balance gelingen?
Sozial gerecht geht es ja schon heute nicht zu. Es gibt eine Korrelation zwischen Mobilitätsverhalten und Einkommen beziehungsweise dem sozialen Status und auch dem Geschlecht. Gerecht muss Mobilität erst werden. Wer viel Auto fährt, viel Platz dafür beansprucht und viel CO₂ ausstößt, sollte dafür auch mehr zahlen, z. B. Steuern oder Straßen- und Parkplatznutzungsgebühren. Das zahlen derzeit alle mit, auch die, die kein Auto haben.
Im urbanen Raum ist der ÖPNV zumeist sehr gut ausgebaut, vernetzt und auch finanziell für die Einwohner attraktiv. Sobald dieser Raum verlassen wird, ist dies oft nicht mehr der Fall. Wie kann eine attraktive Verknüpfung zwischen urbanem, suburbanem und ländlichem Raum gelingen, wenn es um die Mobilität der Einwohner geht?
Kurz noch ein Wort zum öffentlichen Verkehr in den Städten. Der ist meist zu voll, zu laut und zu dreckig. Der öffentliche Verkehr ist ja ein Teil des öffentlichen Raumes, und dieser verwahrlost aktuell leider zunehmend. Nun zum ländlichen Verkehr. Auch da sind flexible Angebote gefragt, um die letzte Meile vom Bahnhof zu bewältigen. Hier können Hub-and-Spoke-Konzepte eine Lösung sein. Zentral wichtig sind dabei die Schiene oder auch der Bus, die den Transport zu Knotenpunkten übernehmen, und ab da sollte es bedarfsorientierte flexible Angebote geben, bestenfalls als Station-zu-Tür-Beförderung. Diese können im Auftrag des öffentlichen Verkehrs fahren, wenn die Kunden das brauchen, und auch Taxis können hierbei eine Rolle übernehmen. Auch Carsharing-Angebote funktionieren auf dem Land. Und natürlich das nachhaltigste Verkehrsmittel nach den eigenen Füßen: das Rad. Der Radwegeausbau, auch von Schnellwegen, kann einen sehr großen Beitrag zu guter ländlicher Mobilität leisten.
Wie eben von Ihnen genannt, ist ein wichtiger Aspekt für die Mobilitätswende der Ausbau von Fuß- und Radwegen. Wie könnte dieser Ihrer Meinung nach noch verbessert und der Ausbau weiter vorangetrieben werden?
Wir werden Straßen opfern müssen. Wir haben ein riesiges Netz an Straßen, die nur für das Auto geplant wurden. Das gilt sowohl für das fahrende als auch das parkende Auto. Dadurch wird der städtische und auch der ländliche Raum blockiert, zerschnitten und zerstört. Für alle, die nicht im Auto sitzen, ist es gefährlich. Wir müssen also den Platz radikal umverteilen und das Auto im Denken aussperren und damit die Blockade für Radfahrer und Fußgänger lösen. Die Straßen befreien und Platz schaffen.
Verkehr ist für rund ein Fünftel der deutschen CO₂-Emissionen verantwortlich. Über 90 % davon stammen aus dem Straßenverkehr. Dies macht deutlich, dass wir dringend einen Richtungswechsel in der Art und Weise unserer Fortbewegung benötigen. Welche zukunftsfähigen Lösungsansätze gibt es hier bereits?
Da gibt es viele Möglichkeiten, die bereits erprobt sind, und neue, die getestet werden. Das autonome oder besser automatisierte Fahren bietet eine große Chance zu weniger Verkehr, weil die Transporte gebündelt werden. Natürlich bietet auch der reine Elektroantrieb, nicht der Hybride, deutliche Umweltvorteile. Auch der Rückgriff auf kleinere Fahrzeuge trägt zu einer positiveren CO₂-Bilanz bei. In den 1970er-Jahren waren die Autos z. B. nur halb so schwer wie heute. Und natürlich kollektive Verkehre, die gerne genutzt werden, alle Sharing- und Pooling-Angebote haben das Potenzial, den motorisierten Individualverkehr zu reduzieren.
Der gebaute Raum gibt maßgeblich vor, welche Formen des Verkehrs ermöglicht und bevorzugt werden. Kleinteilige Stadtstrukturen begünstigen die Nutzung von Fuß und Radwegen. Ist das Quartier die Wohnform der Zukunft?
Es spricht alles dafür. Die 15-Minuten-Stadt, zu der Paris (wieder) werden soll, hat alle Voraussetzungen, um auf kurzen Wegen alles zu erreichen, was wir für unseren Alltag und die Freizeit brauchen. Das Quartier mit einer Nutzungsmischung hat das Potenzial, Verkehr zu reduzieren, weil ich eigentlich nirgendwo sonst hin muss.
Stadtplanerische Interventionen bewirken nachweislich eine Veränderung des Mobilitätsverhaltens. Welche Tipps und Planungshinweise können Sie hierfür geben?
Eigentlich brauchen wir nur Mut zum Ausprobieren. Das haben wir in Kreuzberg mit seinen Pop-up-Radwegen gesehen. Wir müssen anschauen, wie wir uns organsiert haben, bevor das Auto sich in unseren Köpfen eingenistet hat. Im Grunde müssen wir nichts Neues erfinden. Es war alles schon mal da. Dörfer haben mal ganz anders funktioniert. Es gibt Siedlungsbauten, die die Gemeinschaft gefördert haben. Wir haben als Kinder auf der Straße gespielt und sind ohne Ende Fahrrad gefahren. Das haben wir nur völlig vergessen.
Das Gespräch führte Christina Blümel.