Städtebau & Quartiersentwicklung
Genossenschaftliches Bauen: Wohnen für alle
Text + Foto (Header): © MARC WILHELM LENNARTZ
In Niedersachsen baut eine Genossenschaft ihr neues Zuhause in Eigenregie. Das ganzheitliche Mehrgenerationen-Projekt „Hitzacker Dorf“ setzt städtebaulich auf eine Mischnutzung mit weitreichender Eigenverantwortung.
Auszug aus:
QUARTIER
Ausgabe 2.2022
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Im Wendland entstand im Zuge der Flüchtlingsthematik von 2015 der Gedanke, die Geflüchteten über ein gemeinschaftliches Selbstbauprojekt zu integrieren: Die Vision des Hitzacker Dorfes war geboren. Die Idee wurde von dem Lehmbauer und Baubiologen Thomas Hagelstein und dem Projektentwickler Hauke Stichling-Pehlke gemeinsam mit dem Architekten Frank Gutzeit als ergebnisoffener Prozess, der gemeinschaftlich erdacht und stetig weiterentwickelt werden soll, konzipiert. Auf einem 5,5 ha großen Grundstück entsteht in mehreren Bauabschnitten ein Dorf mit rund 100 Wohnungen für Menschen jeden Alters und jeder Nationalität, getragen von einer 2016 gegründeten Genossenschaft, in der jeder Siedler verpflichtend Mitglied ist. Der erste Bauabschnitt ist nun fertiggestellt worden und bietet in 13 Mehrparteienhäusern 52 Erwachsenen und 25 Kindern eine preisstabile und wohngesunde neue Heimat. Der Anteil Geflüchteter liegt bei gut einem Drittel.
Der städtebauliche Ansatz basiert auf der Revitalisierung des ländlichen, strukturschwachen Raums. Denn dieser darbt auch im Landkreis Lüchow-Dannenberg, der zu den am dünnsten besiedelten Regionen in Deutschland gehört und sukzessive zu überaltern droht. Hier versteht sich das Hitzacker Dorf als Blaupause zur Erneuerung ruraler, dörflich-kleinstädtischer Regionen. Insbesondere durch den Zuzug junger Menschen und Familien, die die vollen und teuren Agglomerationen verlassen und bewusst den ländlichen Raum wählen, um ihren Kindern ein entspanntes Aufwachsen zu ermöglichen. Zugleich steht das Hitzacker Dorf als Genossenschaft mit derzeit. ca. 200 Mitgliedern für ein gemeinschaftliches Leben aller Generationen und Nationen. Sie bringen ihre Erfahrungen und Qualitäten ein, ergänzen und unterstützen sich solidarisch. Entscheidend wirkt dabei die Verstetigung von Begegnungen im Alltag, die stabile sozio-ökonomische Beziehungen hervorbringt.
Daseinsgrundfunktionen wieder zusammengeführt
Das Baufeld wird von einem konventionellen Einfamilienhaus-Neubaugebiet aus den 1990er-Jahren umsäumt, dessen letzter Teilabschnitt von der Genossenschaft erworben wurde. Bereits hier setzt das Hitzacker Dorf grundsätzliche Veränderungsakzente, indem es die Daseinsgrundfunktionen wieder zusammenführt. Damit wird die als städtebaulicher Kardinalfehler des 20. Jahrhunderts entlarvte Trennung zwischen Wohnen und Arbeiten, Freizeit, Bildung und Nahrungserzeugung bewusst aufgelöst und an einem Ort reintegriert – kurze, staufreie Wege inklusive. Zudem transportieren Co-Working & Co. ein stückweit urbanes Lebensgefühl in das ländliche Gefüge. Auf dem als Mischgebiet ausgewiesenen Areal werden rund 20 % der Fläche gewerblich genutzt, z. B. von Freiberuflern und Soloselbstständigen, die hier wohnen und zugleich arbeiten – wie auch ein Arzt, der seine Praxis in die Siedlung verlegt hat. Des Weiteren ist, neben der direkten Eigenversorgung in Kleingärten, eine eigene Solawi – solidarische Landwirtschaft – als Food- Cooperative zur Erzeugung von Biolebensmitteln geplant. Derweil ist das große Gemeinschaftshaus als Kommunikationszentrum des Dorfes mit Büro multifunktional ausgerichtet, es dient z. B. als Seminar- und Küchenbetrieb, als Versammlungs- und Aufführungsort, als Bibliothek und im OG gar als Mitwohnzentrale.
Kleinteilige, dezentrale Ökonomie
Die Dorfgründung in unmittelbarer Nachbarschaft zum Bauplatz erfolgte im Hitzacker-Bahnhof (Anbindung Lüneburg – Hamburg), der vor acht Jahren von dem neu gegründeten Verein Kulturbahnhof Kuba e. V. (www.kuba-ev.de) übernommen wurde. Die Genossenschaft Hitzacker Dorf ist Vereinsmitglied und betreibt dort ihr Büro. Damit wächst eine von den Siedlern selbst getragene, kleinteilige und dezentrale Ökonomie heran, die neue Arbeitsplätze in und um die Siedlung herum hervorbringt. Davon profitiert auch das Umland: Sämtliche für den Bau der Gebäude beauftragten Handwerker stammen aus der Region, und zugleich stehen die vielfältigen Angebote im neuen Hitzacker Dorf auch den Menschen im Wendland zur Verfügung – Begegnungen und neue Nachbarschaftsbeziehungen obendrein. Im ersten Bauabschnitt wurden nun 47 Wohneinheiten mit Wohnflächen von 30 m² (Singles) bis zu 150 m² (Familien und WGs) auf einer Fläche von 2,3 ha fertiggestellt. Die von jedem Siedler aufzubringende Eigenleistung beträgt rund 13 % der Gesamtleistung, was einem kalkulierten Wert von ca. 500.000 Euro entspricht.
„Teamer“: bezahlten Handwerkern, die sämtliche Gewerke des Innenausbaus, wie z. B. das Abrütteln des Glasschaumschotters, das Aufbringung des Lehmputzes, das Aufmauern von Lehmsteinen oder das Verlegen der Dielenfußböden, in entsprechenden Baugruppen angeleitet haben. Das Teamwork von Profis und Laien hat funktioniert – was von den Siedlern einmal erlernt wurde, konnte fortan fast selbstständig ausgeführt werden. Das senkte zum einen die Baukosten und trug zum anderen entscheidend dazu bei, dass die Menschen eine echte Identität beim Bau ihrer neuen Heimat entwickeln konnten – ein wesentlicher Faktor für den erfolgreichen Aufbau einer zukunftsfähigen Gemeinschaft. Zudem werden fortwährend Baucamps organisiert, bei denen sich Hitzacker-Interessierte und potenzielle zukünftige Neusiedler für einen definierten Zeitraum im Rahmen eines Modellprojekts für nachhaltiges und bezahlbares Bauen einbringen können. Der Architekt Frank Gutzeit fasst zusammen: „Wir verstehen das Bauen des Hitzacker Dorfes als solidarische Gemeinschaftsaktion. Dem folgt das Konstruktionsprinzip, das ökologisch, giftfrei ist und sich für die Einbringung von Eigenleistung eignen muss. Auch verzichten wir bewusst auf jedwede Kontrolle oder Bewertung der Menschen. Jeder bringt sich bestmöglich ein, ohne Neid oder gar Wettkampfgedanken.“
Die bauliche Basis fußt auf einer Vereinheitlichung von Materialien und Konstruktion, sodass sich die Gebäude nur in den Zuschnitten der Wohnungen unterscheiden. Das hat den Planungsaufwand minimiert, Geld gespart und die Effizienz der Arbeitszeit erhöht, da sich die grundlegenden Abläufe und Anschlüsse bei jedem Bauwerk wiederholten. Ferner verfügen sämtliche Gebäude über die gleiche Fassadengestaltung – EG Kalkputz und OG Holz – sowie über zwei Erschließungsvarianten: mal über innen liegende Treppen, mal über Außentreppen mit überdachten Laubengängen, die zugleich bei hochstehender Sonneneinstrahlung einen gewissen Verschattungseffekt generieren. Die anderthalbgeschossigen Gebäude wurden in vollökologischer Holzständerbauweise ohne Keller auf Streifenfundamenten aus unbewehrtem Beton errichtet. Darauf platzierten die Zimmerer ein nur 12 cm tiefes Ständerwerk, dessen Konstruktion in Anlehnung an den historischen Fachwerkbau auf traditionell verzapften Schwellen, Stielen und Rähmen beruht. Besondere Erwähnung verdient, dass das Douglasienholz der Fassadenschalung aus benachbarten Wäldern stammt und von einem wendländischen Sägewerk bearbeitet wurde. Den Abschluss markieren um 12° geneigte Pultdächer, die wahlweise als Grün- oder Solardach ausgeführt werden können.
Die Versorgung mit Heizung und Warmwasser erfolgt über eine benachbarte Biogasanlage, die von einer Genossenschaft lokaler Landwirte betrieben wird. Über ein eigens verlegtes Nahwärmenetz verkaufen sie einen Teil ihrer bis dato ungenutzten Wärme an das Hitzacker Dorf, wodurch sich deren Anlageneffizienz erhöht. Auf den Dächern werden in Teilen Photovoltaik-Anlagen montiert, und die Planungen für sechs kleine Vertikalwindräder à 10 KW Leistung mit geringen Beeinträchtigungen für Mensch und Natur zwecks siedlungseigener Stromversorgung laufen bereits, zumal die Siedlung in einer Art Windschneise liegt und gute Erträge erwarten lässt. Ferner betreiben die Genossen, um unabhängig zu sein von Fremdentscheidungen, ihr eigenes Strom-Arealnetz mit einer 630 KV-Mittelspannungs- Trafostation. Überdies haben die Siedler auf Einzelzähler für Wasser, Strom und Wärme in den Wohnungen verzichtet, so dass sämtliche Parteien gemittelte Verbrauchswerte akzeptieren, was in Summe günstiger für alle ist. Eine konsequente Fortsetzung der Eigenverantwortlichkeit betrifft auch die Erschließungswege, die nicht der Kommune, sondern dem Hitzacker Dorf gehören, das autofrei – die Pkws parken am Siedlungsrand – sowie mit eigenem Carsharing betrieben wird. Last but not least wird ein schnelles, kabelgebundenes Internet dezentrales Arbeiten von Zuhause ermöglichen.
Miethöhe mit der Kommune abgestimmt
Für die im KfW 40 Standard errichtete Siedlung hat die Genossenschaft insges. 4,1 Mio. Euro an zinsvergünstigten Darlehen von der KfW-Bank erhalten. Zudem konnten aus gezeichneten Genossenschaftsanteilen ca. 25 % der aufzubringenden Eigenmittel generiert werden, wobei jeder Siedler je nach Wohnraumgröße zwischen 18.000 und 30.000 Euro an die Genossenschaft eingezahlt hat. Letztere vermietet wiederum die Wohnungen für 6 Euro/m² Kaltmiete an die Bewohner. Die Miethöhe wurde mit der Kommune abgestimmt, damit die Siedler bei etwaiger Inanspruchnahme einer Grundsicherung ihr Zuhause nicht verlassen müssen und Miete und Nebenkosten übernommen werden. In Summe wartet das Hitzacker Dorf mit einem Preis-Leistungsverhältnis von 1.460 Euro/m² Wohnraum an Baukosten inkl. Grundstück auf, und das in Holzbauqualitäten, für die auf dem freien Markt das Dreifache und mehr zu bezahlen wären. Die Restfinanzierung läuft über eine Genossenschaftsbank, die sich auf derlei Bauvorhaben spezialisiert hat. An dieser Stelle soll nicht verschwiegen werden, dass gut eine halbe Million Euro an unentgeltlicher Planungsleistung in den Bau eingeflossen sind, was das Gesamtergebnis nicht schmälert und zugleich die gelebte Solidarität dieses außergewöhnlichen Projekts widerspiegelt. Dazu passt die Entscheidung der Gruppe, Menschen ohne eigenes oder mit zu wenig Kapital via Solidareinlagen über ein Bieterverfahren die Teilhabe und damit Wohnraum zu ermöglichen. Das gegen jedwede Bodenspekulation gefeite Hitzacker Dorf strebt mit den nächsten Bauabschnitten eine Einwohnerzahl von etwa 300 bis 400 Menschen an, um eine funktionsfähige, sozial-ökologische Ökonomie betreiben zu können.
Projektdetails
Bauweise Holzständerbau |
Nahwärmenetz Agrarpower Wendland www.agrarpower-wendland.de |
Bauzeit 2018–2021 |
Strom Arealnetz Dipl.-Ing. Heinz Ullrich Brosziewski www.brosziewski.de |
Baukosten je m² Wohnfläche 1.460 Euro brutto |
HLS Planung Jens Dahms Planungsbüro für Gebäudetechnik, Sittensen |
Baukosten gesamt 5,5 Mio. Euro brutto (inkl. Bodenerwerb und Erschließung) |
Brutto-Grundfläche (BGF) 15.000 m² |
Bauherrschaft Genossenschaft Hitzacker/Dorf eG www.hitzacker-dorf.de |
Brutto-Rauminhalt (BRI) 3.000 m³ |
Architektur, Generalplanung Frank Gutzeit – Architekt www.gutzeit-architekt.de |
Wohn-/Nutzfläche BA 1 4.056 m² |
Vision, baubiologische und planerische Beratung Thomas Hagelstein + Hauke Stichling-Pelke, Hitzacker |
Energiestandard KfW 40 |
Holzbau Werkplanung, Montage SHL Holzbau GmbH www.shl-holzbau.de |
Jahresprimärenergiebedarf Q”p 26,44 kWh/(m²a) |
Tragwerksplanung Ingenieurbüro für Bauwesen – Dipl.-Ing. Andreas Reinecke www.die-statiker.com |
Max. zulässiger Jahresprimärenergiebedarf (ENEV 2016) 52,87 kWh/(m²a) |
Dacheindeckung Dachdeckermeister Marco Schulze www.schulze-daecher.de |
Endenergiebedarf 46,25 kWh/(m²a) |
Landschaftsarchitektur Landschaftsarchitekt Jörg Knaak www.jörgknaak.de |
Der Autor
Marc Wilhelm Lennartz
Der Fachjournalist und Autor Marc Wilhelm Lennartz, Diplom-Geograph mit Schwerpunkt Städtebau + Siedlungswesen, lebt in der Eifel und publiziert seit über zwei Dekaden u. a. in den Fachbereichen Architektur, Holzbau, Gebäudetechnik, Wohnungswirtschaft, Baubiologie und Denkmalpflege.
www.mwl-sapere-aude.com