Energieoptimierte Wohnquartiere: Lösungen für die Energiewende

Energieoptimierte Wohnquartiere: Lösungen für die Energiewende

Städtebau & Quartiersentwicklung

Energieoptimierte Wohnquartiere: Lösungen für die Energiewende

Text: Thomas Kohne, Nadja Bishara, Martin Such, Martin Beck, Eva Maria Stadler, Jens Schneider | Foto (Header): © NICOELNINO – stock.adobe.com

Im Mai 2021 startete mit dem Projekt DELTA ein neues Reallabor der Energiewende. Geleitet von der Technischen Universität Darmstadt, soll dieses zum Schaufenster für die urbane Energiewende werden. Dazu werden über fünf Jahre in und um Darmstadt verschiedene Konzepte und Technologien erprobt, um den CO²-Ausstoß zu reduzieren sowie den Energiebedarf zu flexibilisieren.

Auszug aus:

Im Reallabor DELTA werden die verschiedenen Quartierstypen Wohnen, Industrie und Gewerbe sowie der verbindenden Elemente Energienetze, Mobilität und digitale Infrastruktur untersucht. Es soll demonstriert werden, dass technologische Potenziale zur Steigerung der Energieeffizienz und -flexibilisierung von verschiedensten urbanen Quartieren wirtschaftlich umsetzbar sind und diese auch gesellschaftlich akzeptiert werden. Insgesamt sollen mit den Umsetzungen dauerhaft bis zu 15.000 t CO² pro Jahr eingespart werden. Darüber hinaus sollen durch die konsequente Aufarbeitung der Entwicklungen durch digitale Tools, Innovationsökosysteme sowie den gesellschaftlichen Austausch Ergebnisse transferiert und somit über Darmstadt hinaus anwendbar werden. [1] [2]
Um die beschriebenen Ziele zu erreichen, werden Standorte im Stadtgebiet Darmstadt sowie dessen unmittelbarem Umfeld ausgewählt und technologische Innovationen in einem realen Maßstab erprobt (siehe Abb. rechts). Hierzu zählen insbesondere:

  • die Ertüchtigung von Industriebetrieben mit dem Fokus auf Energieeffizienz und -flexibilität sowie der Bereitstellung von industrieller Abwärme an ein quartiersübergreifendes Wärmenetz
  • die optimierte Allokation gewerblicher Energieverbraucher für eine optimierte Verlustwärmenutzung innovativer Technologien (z. B. Elektrolyse in Quartierszellen mit hohem Wärmebedarf)
  • die Integration von Powerto-Heat-Anlagen (insbesondere Wärmepumpen) und Ertüchtigung für die Stromflexibilität in das städtische Energiesystem
  • die Einbindung und Vernetzung dezentraler Erzeugungs- und Speicherkonzepte
  • die weitestgehend klimaneutrale Energieversorgung von Wohnungen mit optimierter Nutzung verfügbarer CO²-freier Strom- und Wärmequellen

Innerhalb des Projekts wird ein mehrschichtiger, sektorenübergreifender und -koppelnder Ansatz verfolgt (siehe Abb. zum methodischen Vorgehen unten). Dabei werden auf der ersten Ebene einzelne Einheiten, z. B. Wohngebäude oder Produktionsanlagen in urbanen Quartieren, hinsichtlich ihrer Energieeffizienzpotenziale untersucht und energetisch optimiert. Auf der nächsten Ebene werden Energiequellen und -senken innerhalb einzelner Quartiere durch effiziente und flexible Energieversorgungssysteme verbunden. Schließlich können auf Ebene 3 auch übergreifende Synergien von Quartieren gehoben werden. Als Beispiel sei hier die Abwärme eines Industriequartiers genannt, welche über ein Fernwärmenetz im Wohnquartier genutzt werden kann.
Wesentliches Teilprojekt ist die Entwicklung eines neuen energieoptimierten Wohnquartiers, das aufgrund der großen Distanz zu Industriebetrieben und vorhandenen Wärmenetzen mit den Ansätzen der ersten beiden Ebenen bereits als weitestgehend klimaneutral aufgebaut werden soll.

Auswahl der geplanten Standorte für die Umsetzungen im Reallabor DELTA, Hintergrund: Karte der Stadt Darmstadt
Abbildung: PTW TU DARMSTADT

Methodisches Vorgehen im Reallabor DELTA mit dem Ziel, CO²-Einsparungen im urbanen Energiesystem zu erschließen
Abbildung: PTW TU DARMSTADT

Energieoptimiertes Wohnquartier in Darmstadt

Im Darmstädter Süden befinden sich in Stadtrandlage zum Odenwald rund 34 ha ehemaliger Militärflächen, welche nun, nach dem Abzug der amerikanischen Streitkräfte im Jahr 2008, einer neuen Nutzung zugeführt werden. Auf dem Gelände der ehemaligen Cambrai-Fritsch-Kaserne sowie der sich anschließenden Jefferson-Siedlung wird ein neues und besonders energieeffizientes städtisches Quartier entstehen, das Ludwigshöhviertel (siehe Abb. unten). Neben der Hauptnutzung mit ca. 1.400 Wohnungen sind Kindertagesstätten, ein Bildungszentrum, ein Nahversorger sowie weitere Gewerbeflächen vorgesehen. Die bisher mit einer Endstation angrenzende Straßenbahnlinie wird zur Verbesserung der verkehrlichen Erschließung verlängert und durch das Quartier geführt. Die zentrale Landschaftstreppe verbindet die angrenzenden Waldgebiete, gewährleistet die Kaltluft-Durchströmung entlang der Hanglage und wertet die Quartiersmitte mit vier denkmalgeschützten Gebäuden auf.
Bei der Quartiersentwicklung wurde einer klimaneutralen Wärmeversorgung eine hohe Priorität eingeräumt. Gleichzeitig bestehen zahlreiche weitere Anforderungen z. B. an die Qualität der öffentlichen und privaten Freianlagen, den Artenschutz, die Durchströmung des Quartiers mit Frischluft, das Mobilitäts- und Parkraumkonzept wie auch die Fassadenbegrünung. Die Sicherstellung von bezahlbarem Wohnraum unterliegt gewöhnlich einer komplexen Zielabwägung. Nicht zuletzt trägt auch die Beschränkung der Bebaubarkeit zu anteilig höheren Grundstückskosten bei. Der in einem Wettbewerbsverfahren gewählte städtebauliche Entwurf wurde deshalb zugunsten einer späteren Nachverdichtung optimiert.
Um das Ziel einer klimaneutralen Wärmeversorgung zumindest bilanziell zu erreichen, soll insbesondere der Energiebedarf für Wärme minimiert sowie die Versorgung aus erneuerbaren Energien intensiviert werden. Da das Quartier inklusive der zugehörigen Infrastruktur überwiegend neu aufgebaut wird, bieten sich hierfür vielfältige Möglichkeiten (siehe Abb. unten). Eine Kombination aus Effizienzhaus 40, Solardächern und eine differenzierte Wärmeversorgung mit Nahwärme, zentraler Geothermie mit Abwärmenutzung und dezentralen Wärmepumpen haben sich als Optimum für das Quartier erwiesen. Hinsichtlich der Wärmeversorgung ist das Quartier in drei Teilgebiete gegliedert: Ein zentrales Feld mit Erdwärmesonden (EWS) und kaltem Netz versorgt etwas mehr als 10 % der Wohnungen mit Erdwärme und wird durch die Nutzung von Abwärme des lokalen Nahversorgers und aus den Wohngebäuden regeneriert. Die Quartiersteile mit einer höheren Energiedichte (knapp 70 % der Fläche) werden über eine Heizzentrale mit Kraft-Wärme-Kopplung (KWK) und ein Nahwärmenetz versorgt. Die übrigen Grundstücke mit geringerer Energiedichte sind dezentral mit Außenluft- oder Geothermie-Wärmepumpen zu versorgen. Die Grundlagen des Energiekonzepts wurden frühzeitig in einem städtebaulichen Vertrag verankert.

Städtebauliches Strukturkonzept für das Ludwigshöhviertel
Abbildung: AS+P ALBERT SPEER + PARTNER GMBH

Elektrische und thermische Vernetzung der Wohn- und Gewerbegebäude sowie Mobilität im energieoptimierten Wohnquartier
Abbildung: ISM+D TU DARMSTADT

Energieoptimierte Gebäude im kalten Netz

Mindestens acht Gebäude mit 140 Wohnungen werden über ein kaltes (Primär-)Netz an das zentrale Erdsondenfeld angeschlossen und sind wesentlicher Bestandteil des Reallabors DELTA. Die ca. 180 m tiefen Erdsonden werden in der westlichen Landschaftstreppe platziert und versorgen die direkt südlich angrenzenden Grundstücke mit Wärme aus erneuerbarer Energie. Die Vorlauftemperatur im kalten Netz ergibt sich aus der natürlichen Vorlauftemperatur der Erdsonden, sodass die Leitungen kostensparend ohne Wärmedämmung verlegt werden können. Zudem begünstigt die niedrige Temperatur die Einbindung von Abwärme aus Wohn- und Gewerbegebäuden und kann zur passiven Kühlung genutzt werden.
Je Grundstück ist eine Heizzentrale mit Geothermie-Wärmepumpe vorgesehen, die ein sekundäres Niedertemperatur-(NT-)Netz mit einer Vorlauftemperatur von ca. 38 bis 45 °C versorgt. Zusätzlich werden die zentralen Abluftventilatoren mit Wärmepumpen ergänzt und über die Heizungspufferspeicher je Gebäude in das NT-Netz integriert.
Als dritte Wärmequelle werden auf den Gebäuden mit Heizungszentralen photovoltaisch-thermische Module (PVT) installiert: Ein Absorber unter den Photovoltaik-(PV-)Modulen nutzt die Wärme, welche in einen zusätzlichen Pufferspeicher eingespeist wird, der auf der Seite des kalten Primärnetzes platziert ist. Bei gleichem Flächenverbrauch kann die solare Strahlungsenergie somit effizienter genutzt werden. Die Temperatur der Absorber erreicht lediglich etwa die Außentemperatur, kann aber zur Wärmeversorgung im Gebäude über die Wärmepumpe mit verbesserter Arbeitszahl oder über das kalte Netz zur Regeneration des Erdsondenfeldes genutzt werden. Der Strom aus den PVT-Modulen soll preisstabilisierend für den Betrieb der Wärmepumpen verwendet werden. Die PVT-Module sind derzeit noch sehr kostenintensiv und deshalb ohne Förderung nicht wirtschaftlich einsetzbar.
Die Trinkwarmwasserbereitung erfolgt über Wohnungsstationen: Über Wärmetauscher, die an das sekundäre NT-Netz gekoppelt sind, wird Kaltwasser auf ca. 38 bis 40 °C erwärmt. Ein nachgeschalteter elektrischer Durchlauferhitzer sichert die individuellen Komforttemperaturen von bis zu 50 °C.
Die Anbindung der Gebäude an das kalte Netz ermöglicht zudem eine passive Kühlung der Gebäude. Im Sommer kann von Fußbodenheizung auf Fußbodentemperierung umgestellt werden. Die Abwärme trägt zur Regeneration der Erdsonden bei. Der Komfort in den Wohnungen wird damit erhöht, die Leistung jedoch nicht auf eine Kühlung von größeren Lasten ausgelegt. Die Nutzung des Sonnenschutzes an den Fenstern bleibt wesentliche Grundlage für den Sommerkomfort, ebenso wie stromsparende Haushaltsgeräte und Beleuchtung zur Begrenzung von internen Wärmelasten. Der hohe Wärmedämmstandard mit Effizienzhaus 40-Niveau sowie das zentrale Geothermiefeld mit NT-Netz und dezentralen Wärmepumpen bilden die Grundlage zur effizienten Nutzung von Erneuerbaren Energien und Abwärme im vernetzten Quartier. Durch die Überwachung, Bewertung und CO²-optimale Steuerung mit einem intelligenten Energiemanagementsystem wird die effiziente Nutzung von Energie zusätzlich gesteigert.

Ergänzende Maßnahmen im Wohnquartier

Auch die im Quartier lebenden Menschen sollen zu einem effizienteren Nutzungsverhalten angeregt werden. Über eine internetbasierte Plattform für die Mieterinnen und Mieter werden Informationen zu Energieverbräuchen und Solarstromangebot sichtbar gemacht.
Neben der priorisierten Einsparung von Energie im Betrieb wird auch über ressourcenschonende Bauweisen mit nachwachsenden Baustoffen bereits beim Bau CO² eingespart. Über die verschiedenen Planungsbüros kommen unterschiedliche Holzbau- und Holz-Hybrid-Konstruktionen zum Einsatz. Zudem werden Rückbau- und Recyclingpotenziale mit eingeplant.
Die Umstellung auf E-Mobilität schreitet voran, Ladestationen müssen zukünftig auch im Mietwohnungsbau ermöglicht werden. Die Infrastruktur für Ladestationen an den Stellplätzen auf den Grundstücken und in den Quartiersgaragen wird deshalb vollständig vorbereitet. Je Grundstück werden erste Ladestationen aufgestellt, und ein Stellplatz mit E-Carpooling wird zur Verfügung gestellt.
In einer der drei Quartiersgaragen werden ca. 30 Stellplätze mit Ladestationen sowie Außenstellplätze mit Schnellladestationen ausgestattet. Diese werden an die PV-Anlage auf dem Garagendach inklusive eines stationären Batteriespeichers gekoppelt. Zusätzlich wird der Anschluss der Anlage an das Gleichstromnetz der Straßenbahn geprüft, um die verfügbare Leistung effizienter zu nutzen.

Ausblick

Das Projekt DELTA leistet als Reallabor einen Beitrag zu den Dekarbonisierungszielen i. S. d. Nachhaltigkeitsaspekte Ökologie, Ökonomie und Soziales. Die zu entwickelnden und zu erprobenden Lösungsbausteine zielen auf eine verstärkte Nutzung lokal verfügbarer Energieressourcen ab. Dabei stehen insbesondere der unmittelbare räumliche Zusammenhang innerhalb des Quartiers und der Austausch mit benachbarten Quartieren im Fokus. Als Energieressourcen wird die Prosumer-Eigenschaft von einzelnen Teilnehmenden in Energiesystemen fokussiert – z. B. die Industrie als Wärmenutzer und -erzeuger bzw. die Elektrolyse als Wärmequelle in Quartierswärmeverbünden. Darüber hinaus werden vorhandene und zum Teil ungenutzte Kapazitäten in die Energiesystementwicklung einzelner Quartiere einbezogen, wie z. B. Gleichstromnetze der Straßenbahn für eine aufzubauende Ladeinfrastruktur.
Mit dem Fokus auf Dekarbonisierung mit dem Ansatz bottom-up, d. h. aus einzelnen Quartieren heraus, werden Lösungen realisiert und erprobt, welche über das Projekt hinaus eine hohe zukünftige Übertragbarkeit auf vergleichbare Strukturen ermöglichen werden.

Reallabore
Das Darmstädter Energie-Labor für Technologien in der Anwendung (DELTA) [1] zählt zu den 20 Gewinnern des Ideenwettbewerbs „Reallabore der Energiewende“ des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie. Diese Reallabore setzen zukunftsweisende Projekte im industriellen Maßstab um. Im 7. Energieforschungsprogramm der Bundesregierung sollen sie als innovatives Format in der Förderpolitik die angewandte Forschung in Richtung Praxistransfer ergänzen und die Energiewende voranbringen. Ziel ist es, die jeweiligen Konzepte unter realen Bedingungen so weit auszuarbeiten, dass sie sich künftig auf andere Quartiere und Städte in ganz Deutschland übertragen lassen. [2]

Quellen


(alle angesehen am 09.11.2021)
[1] delta-darmstadt.de
[2] www.energiewendebauen.de/projekt/delta-das-energiesystemder-stadt-verbinden

Die Autoren und Autorinnen


M.Sc. M.Sc. Thomas Kohne
Projektkoordination, PTW TU Darmstadt
Dr. Nadja Bishara
Stellv. Projektkoordination und Teilprojektleitung, ISM+D TU Darmstadt
Dipl.-Ing. (FH) Martin Such
Teilprojektleitung, bauverein AG
Dipl.-Wirtsch.-Ing. Martin Beck
Projektkoordination, ETA-Solutions GmbH
Eva Maria Stadler
M.Sc., Projektmitarbeit, ETA-Solutions GmbH
Prof. Dr.-Ing. Jens Schneider
Projektleitung, ISM+D TU Darmstadt

Das vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) geförderte Reallabor DELTA ist im Mai 2021 gestartet und läuft über fünf Jahre bis zum April 2026. Weitere Informationen zum Projekt wie eine Übersicht aller Partnerinstitutionen und -unternehmen des Konsortiums finden Sie unter: www.delta-darmstadt.de

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