Städtebau & Quartiersentwicklung
Das Forschungsprojekt MobiliSta: Experimentieren in der Nische
Text: Dr. Janina Welsch | Foto (Header): © J-MEL – stock.adobe.com
Schon lange wird eine notwendige Veränderung der Mobilität diskutiert. Die Frage ist, wie Mobilität in Städten nachhaltiger wird und wie eine Auto-orientierte Mobilitäts kultur im Stadtteil verändert werden kann? Damit beschäftigte sich ein Forschungsprojekt des ILS – Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung in Dortmund.
Auszug aus:
QUARTIER
Ausgabe 5.2023
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Das Forschungsprojekt „MobiliSta – Mobilitätsräume abseits der autogerechten Stadt “war inter- und transdisziplinär angelegt. Einerseits haben Forschende aus verschiedenen Disziplinen, andererseits Wissenschaft und Praxis im Untersuchungsgebiet Bielefeld-Sennestadt zusammengearbeitet [1].
Mobilitätswende – ein großes Ziel
Ziel der Verkehrs- und Mobilitätswende ist, dass Mobilität und Verkehr nachhaltiger werden. Es soll eine ökologische, soziale und ökonomische Verträglichkeit erreicht werden, sowohl gegenwärtig als auch bezogen auf zukünftige Generationen [2]. Das übergeordnete Projektziel von MobiliSta lag darin, eine lokale Verkehrs- und Mobilitätswende zu fördern, die Akzeptanz und Wirkung nachhaltiger Mobilitätslösungen zu erhöhen und dadurch langfristig die Transformation der lokalen Mobilitätskultur aktiv zu unterstützen und diese gleichzeitig zu erforschen.
Reallabore als Experimentierräume für Transformation
Das Kernelement des Projekts war das MobiliSta-Reallabor. Hier wurden vor Ort in Veranstaltungen, Workshops oder auf Stadtteilfesten gemeinsam mit Menschen aus dem Stadtteil und Institutionen in einem kreativen Prozess Ideen für zukünftige Mobilität diskutiert. Darauf aufbauend wurden gemeinsam Maßnahmen entwickelt, in Teilen erprobt und in die Praxis gebracht.
Die Idee eines Reallabors besteht darin, große Veränderungsprozesse – wie die der Mobilitätswende – konkret im sozialräumlichen Kontext auszuhandeln und zu gestalten. Reallabore sind auf lokale Probleme und deren Lösungen bezogen. Gleichzeitig soll übertragbares Wissen generiert werden, das auf übergeordneter Ebene einen Beitrag zur Transformation leistet [3].
Hierzu ein paar theoretische Grundüberlegungen: Transformation entsteht nicht im luftleeren Raum, sondern findet im Wechselspiel zwischen mehreren Ebenen statt. Die allgemeinen Entwicklungen (landscape) bilden den Rahmen. Auf der nächsten Ebene wird das Regime durch die technischen, politischen und sozioökonomischen Strukturen bestimmt. Im untersuchten Fall ist dies eine Pkw-orientierte Mobilität. Darunter liegen die sog. Nischen, wo Neuerungen entstehen, getestet, verworfen oder weiterentwickelt werden. Reallabore werden in solchen Nischen verortet (Abb. 2), denn dort geschaffene Neuerungen – z. B. Maßnahmen wie neue Ticket-Angebote – können zu einer Veränderung des Regimes beitragen, wenn sich ein Möglichkeitsfenster auftut. Nach und nach kann es zu tiefgreifenden Veränderungen und zu einer neuen Normalität (nachhaltige Mobilität) kommen [4].
Im MobiliSta-Reallabor hat sich die Mischung aus dem Engagement von Bürgerinnen und Bürgern und eher institutionalisierten Akteuren bewährt. Der Fokus lag auf einem partizipativen Reallaborprozess mit der Zivilgesellschaft. Im Rahmen der Auftaktveranstaltung im Februar 2019 entwickelten die Menschen ihre Visionen zur zukünftigen Mobilität in Sennestadt und fanden sich in mehreren Gruppen zusammen, um daran gemeinsam zu arbeiten und konkrete Maßnahmen zu erproben. Es sollten dabei möglichst im Stadtteil öffentlich sichtbare Aktionen stattfinden. Das wissenschaftliche Team unterstützte dabei. Im Sommer und Herbst des gleichen Jahres wurden verschiedene Aktionen durchgeführt. Man konnte z. B. auf dem Sennestadtfest Lastenräder testen und umgenutzte Parkplätze einmal ganz anders erleben (Abb. 3 und 4). Eine Gruppe setzte sich mit einer Demonstration für ein sicheres und komfortables Fahrradfahren ein, eine andere diskutierte eine Ausweitung bestehender Carsharing-Angebote für die Sennestadt. Der offizielle Abschluss des Reallabors fand Ende 2019 statt.
Letztendlich war die zivilgesellschaftliche Initiative zum Marktbus besonders erfolgreich. Hier wurde eine bereits vorhandene, vage Idee in die Praxis gebracht und auch nach den Corona-bedingten Einschränkungen sowie weit über den Projektzeitraum hinaus verstetigt. Die Idee besteht darin, mobilitätseingeschränkte Menschen in der Sennestadt bei einem Besuch auf den samstäglichen Wochenmarkt zu begleiten, sie von Zuhause abzuholen und wieder zurückzubringen. Für den Marktbus engagieren sich Ehrenamtliche sowohl beim Fahren des Busses als auch beim Begleiten. Dafür wird ein an Wochenenden nicht im Einsatz befindlicher Kleinbus einer lokalen sozialen Einrichtung genutzt. Die Initiative verbindet dabei Mobilität mit sozialem Engagement.
Neben den Aktionen mit Bürgerinnen und Bürgern konnte zusammen mit institutionellen Akteuren ein Mieterticket entwickelt und in einer Pilotphase (Januar 2019 bis Dezember 2020) getestet werden. Das sog. SennestadtTicket ermöglichte den Mietenden von zwei Wohnungsunternehmen die kostenlose Busnutzung in Sennestadt. Als Upgrade wurde eine besonders günstige Abo-Variante für den ÖPNV in Bielefeld angeboten. Die Evaluation durch das ILS zeigte, dass das neue Ticketangebot die Busnutzung der Bewohnerschaft signifikant erhöhte und weitere positive Effekte auf die Mobilität und die soziale Teilhabe hatte [5]. Insgesamt wurde das Ticket von den beteiligten Akteuren als erfolgreich bewertet und im Anschluss ein neues Angebot – das MieterAbo – für alle Neuvermietungen in ganz Bielefeld entwickelt. Für die Hauptmieter ist dieses günstige Mieterticket für der gesamten ÖPNV in Bielefeld bereits im Mietvertrag integriert [6].
Das Reallabor im Projekt MobiliSta hat viele Menschen in der Sennestadt motiviert, sich für nachhaltige Mobilität zu interessieren und einzusetzen. Dafür wurde mit dem Reallabor Anstoß gegeben und Raum geboten. Beim Mobilitätsthema dominierte zuvor eine sehr emotional geführte öffentliche Debatte um die geplante Stadtbahnverlängerung. Nach Einschätzung der Forschenden konnte diese etwas entschärft und das Mobilitätsthema positiver besetzt werden. Durch den offen gestalteten Prozess konnten einige passgenaue „Neuerungen aus der Nische heraus “entwickelt werden. Es hat sich gezeigt, dass vor allem solche Maßnahmen gut funktionieren, die von besonders engagierten Personen und institutionellen Akteuren initiiert und durchgeführt wurden. Durch die COVID-19- Pandemie konnten leider nicht alle geplanten Aktionen umgesetzt werden. Im Jahr 2020 wurden jedoch einige mobilitätsbezogene Kunstaktionen im öffentlichen Raum umgesetzt (Videos siehe [7]).
Parallel zum Reallabor wurden in wissenschaftlichen Analysen und Auswertungen zum derzeitigen Mobilitätsverhalten und möglichen Veränderungen in Sennestadt erstellt und mit den Akteuren vor Ort diskutiert. Auf Stadtteilebene insgesamt, also unabhängig von den direkten Beteiligten, wurden keine deutlich messbaren Veränderung der Mobilität bzw. der wahrgenommen Mobilitätskultur festgestellt. Möglicherweise wären größere, öffentlich deutlicher und länger wahrnehmbare, disruptivere Experimente und die Einbindung weiterer etablierter Akteure und mehr (positive) Medienresonanz für eine messbare Veränderung notwendig gewesen.
Es besteht jedoch die Hoffnung, dass bei weiterem Engagement vor Ort dies mittel- und langfristig gelingt, denn es kommt hier zunächst auf den Willen an, Veränderungen anzuregen und zu einem Wandel in den Köpfen beizutragen. Letztendlich kann eine große Transformation (des Regimes) auch aus vielen kleinen Impulsen und kleinen Veränderungen (aus der Nische) hervorgehen. Reallabore – wie das von MobiliSta in Sennestadt [8] – können dafür den Rahmen bieten und so zum Wandel einen Beitrag leisten. Impulse und viele Schritte im Kleinen wie im Großen sind notwendig, um letztendlich das große Ziel einer Mobilitätswende zu erreichen.
Quellen/Hinweise
[1] Förderung BMBF, 10/ 2017- 03/ 2021
[2] Frey, K., Burger, A., Dziekan, K., Bunge, C., & Lünenbürger, B. (2020). Verkehrswende für ALLE – So erreichen wir eine sozial gerechtere und umweltverträglichere Mobilität (Position). Umweltbundesamt (UBA).
[3] Schäpke, N., Stelzer, F., Bergmann, M., Singer-Brodowski, M., Wanner, M., Caniglia, G., & Lang, D. J. (2017). Reallabore im Kontext transformativer Forschung – Ansatzpunkte zur Konzeption und Einbettung in den internationalen Forschungsstand (IETSR Discussion papers in Transdisciplinary Sustainability Research No. 1/ 2017). Leuphana Universtität Lüneburg. epub. wupperinst. org/ frontdoor/ deliver/ index/ docId/ 6629/ file/ 6629_ Schaepke. pdf
[4] Geels, F. W. (2011). The multi-level perspective on sustainability transitions – Responses to seven criticisms. Environmental Innovation and Societal Transitions, 1 (1), 24 – 40. doi. org/ 10.1016/ j. eist. 2011.02.002
[5] Albrecht, J., Welsch, J., & Herwegen, M. (2023). Ein Mieterticket als Beitrag zur Mobilitätswende? Empirische Erkenntnisse aus der Evaluation des SennestadtTickets in Bielefeld. Der Nahverkehr.
[6] BGW (2021). Pilotprojekt Mieter- Abo – Neumieter der Freien Scholle und der BGW profitieren von stark vergünstigtem Abo. www. bgw-bielefeld. de/ blog/ 2021/ 08/ 11/ mieterabo www. umweltbundesamt. de/ sites/ default/ files/ medien/ 376/ publikationen/ 2020_ pp_ verkehrswende_ fuer_ alle_ bf_ 02. pdf (eingesehen am 15.09.2023)
[7] Neue Mobilista (2020). www. neuesennestadt. com/ neue-mobilista [8] MobiliSta (2021, March 31). mobilista. sennestadt. de [9] Schrape, J. -F. (2014). Kurze Einführung in die Multi-Level Perspective [Skript vom 18.11.2014]. Universität Stuttgart. gedankenstrich. org/ index. php? s = Kurze + Einf% C3% BChrung + in + die + Multi-Level + Perspective +
Die Autorin
Dr. Janina Welsch
Dr. Janina Welsch ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Forschungsgruppe Mobilität und Raum am ILS – Institut für Landes- und Stadtentwicklungs forschung gGmbH in Dortmund. Sie erforscht unterschiedliche Aspekte einer nachhaltigen Mobilitätsentwicklung sowie des Mobilitätsverhaltens und war 2020 – 2021 MobiliSta-Projektkoordinatorin.