Energie, Technik & Baustoffe
Aufwand und Ertrag von begrünten Fassaden: Low-Tech-Green Fassadenbegrünung
Text: Isabelle Drexler | Foto (Header): © DGJ ARCHITEKTUR, FRANKFURT AM MAIN
Die Begrünung von Gebäudefassaden bietet zahlreiche Vorteile, wie die Reduzierung sommerlicher Überhitzung, das Fördern der Artenvielfalt oder den positiven Einfluss auf das städtische Mikroklima. Trotzdem kommen begrünte Fassaden noch selten bei Bestands- und Neubauten zum Einsatz. Ein interdisziplinäres Forschungsteam aus Architektur, Landschaftsarchitektur und Bauphysik hat nun in einem Projekt eine kostengünstige Low-Tech-Alternative entwickelt und als Prototyp umgesetzt.
Auszug aus:
QUARTIER
Ausgabe 1.2024
QUARTIER abonnieren
Diese Ausgabe als Einzelheft bestellen
Im Jahr 2019 wurde DGJ Architektur mit der Planung eines Wohnprojekts mit gemeinschaftlicher Nutzung für die Genossenschaft „WohnWerk Mannheim eG“ (www.wohnwerk-mannheim.de) beauftragt. „Wir haben uns sehr über dieses Projekt gefreut“, erinnert sich der leitende Projektarchitekt und Partner bei DGJ, Frederik Ehling. „Nachhaltigkeit gehört zu unseren Kernthemen. Das ‚WohnWerk‘ wünschte sich ein architektonisches Konzept, das gemeinschaftliches Leben und ein nachhaltiges, modernes Wohnen fördert. Perfekt für uns!“
Nachhaltigkeit sollte jedoch nicht nur im Wohnkonzept berücksichtigt werden, bei dem durch ein Holzbau-System eine flexible Wohnbebauung möglich wurde – diese kombiniert unterschiedliche Wohnungsgrößen von 2- bis 5-Zimmer-Wohnungen und gemeinschaftliche Nutzungen wie einen Multifunktionsraum, Gästezimmer und gemeinsam genutzte Dachterrasse und Garten. Die Südfassade des „WohnWerks“ befindet sich direkt gegenüber dem Gelände der Bundesgartenschau 2023 in Mannheim auf der Konversionsfläche „SPINELLI“. Von dieser prominenten Lage inspiriert, hat DGJ eine besondere Fassade entwickelt: Eine Grünfassade, die nicht nur dem Gebäude selbst Verschattungsgewinne bringt, sondern auch einen visuellen und nachhaltigen Gewinn für das gesamte Quartier darstellt. „Aus vorherigen Projekten wissen wir, dass verfügbare Fassaden-Begrünungssysteme am Markt technisch sehr aufwendig und dementsprechend teuer sind. Nach eingehenden Gesprächen mit der Bauherrin haben wir uns entschlossen, unser eigenes System für die Grünfassade zu entwickeln“, erklärt Ehling.
Forschung für nachhaltige Grünfassaden: „Low-Tech-Green“
Der nächste Schritt war die Beantragung einer Forschungsförderung. Da bereits einige vorangegangene Forschungsprojekte von DGJ aus dem Förderprogramm „Zukunft Bau“ des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) unterstützt werden, lag eine Beantragung für die Grünfassade nahe. Das BBSR engagiert sich auf den Gebieten Energie, Umwelt und Klima. Neben empirischen Fragen widmet sich das Institut ebenso planerischen und konzeptionellen Ansätzen und unterstützte auch das „Low-Tech-Green“-Projekt. „Wir wollten eine konkrete, nachhaltige Stoßrichtung für unser Projekt verfolgen“, erläutert Ehling. „Fragen beantworten, für die es bisher im Bereich Grünfassaden keine Antworten und belastbaren Daten gab, beispielsweise: Wie lassen sich die technischen und baulichen Bauweisen vereinfachen? Und wie lassen sich die Vorteile der Begrünung – insbesondere im Hinblick auf die Verschattungswirkung – quantifizieren?“
Letzteres betrifft konkret die Bezifferung des Abminderungsfaktors für unterschiedliche Bepflanzungen im Nachweis des sommerlichen Wärmeschutzes nach DIN 4108 oder in der Energiebilanz nach DIN V 18599. Was sich auf dem Papier sperrig liest, ist für die Entscheidung einer Bauherrin für oder gegen eine Grünfassade unter Umständen entscheidend: Spart eine Grünfassade vor meinem Haus wirklich Energie? Oder ist sie eigentlich nur eine nette Deko, die auch noch kontinuierlich gepflegt werden muss? Die Forschungsarbeit „Low-Tech-Green“ von DGJ und den Forschungspartnerinnen Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen (HfWU), ina Planungsgesellschaft und GKR Hydro hat nun erstmals den wissenschaftlichen Nachweis erbracht: Grünfassaden zahlen effektiv auf die Verschattungswirkung von Gebäuden und damit auf Energieersparnis und Kostenschonung ein. Die Quantifizierung der positiven Effekte bietet eine mögliche Planungsgrundlage für den Nachweis des sommerlichen Wärmeschutzes nach DIN 4108-2 in weiteren Projekten mit ähnlicher Zielsetzung. Die Veröffentlichung der Details durch das BBSR erfolgt voraussichtlich Mitte 2024.
Grünfassaden können langfristig Kosten sparen
Die positiven Auswirkungen von begrünten Fassaden beispielsweise auf das Mikroklima konnten bereits in verschiedenen Studien nachgewiesen werden. Die Studie „Low-Tech- Green“ eröffnet nun eine Möglichkeit, die Fassadenbegrünung bei geeigneter Konstruktion und Pflege auch als Verschattungssystem einzusetzen. Ehling verweist auf die zahlreichen Vorteile von Fassadenbegrünungen: „Vor Fenstern oder Glasfassaden kann sie durch die Verschattungsleistung und Verdunstungskühlung der Pflanzen zu einer Verringerung von Überhitzung führen. Die Vegetation bietet Lebensraum für Tiere und unterstützt die Artenvielfalt. Die jetzt von uns nachgewiesene Verschattungswirkung kann Energie und damit Kosten sparen.“
Ein weiteres, wichtiges Ziel des Forschungsprojekts war die Entwicklung einer Low-Tech-Bauweise, die mit einfachen baukonstruktiven und physikalischen Grundprinzipien arbeitet und robuster und nachhaltiger zu betreiben ist als die aktuell am Markt verfügbaren, komplexen High-Tech-Lösungen. Begrünung, Pflanzkübel, Stahlseile und Befestigung sind variabel anwendbar, je nach Einsatzort. Ehling ergänzt, dass es für die Forschung ein großer Vorteil war, dass das neue System nicht nur theoretisch entwickelt, sondern auch in einem konkreten Bauprojekt einem Praxistest unterzogen werden konnte.
Schritt für Schritt zu mehr Klimaschutz
Bis dahin waren verschiedene Herausforderungen zu bewältigen. Zuerst wurden die Grundlagen der Systementwicklung erarbeitet, darunter Recherche zu bestehenden Bauweisen, Best-Practice-Beispiele und bautechnische Anforderungen wie Holz- und Brandschutz. Anschließend wurden die erforderlichen Kenngrößen für Parametrisierung, Evaluation und Simulation der ausgewählten Bauweisen entwickelt. Dabei wurde für das „WohnWerk“ eine bauphysikalische Sonnenstandsanalyse durchgeführt. Diese zeigt, für wie viele Stunden eine Fassade direktes Sonnenlicht erhält, und informiert somit spezifisch darüber, wo und zu welchen Zeiten mit Sonneneinstrahlung und Verschattung zu rechnen ist. Damit wurde die voraussichtlich ideale Platzierung der verschiedenen Pflanzenarten bestimmt.
Die dritte Phase bestand in der konkreten Umsetzung von drei Testständen auf einem Grundstück der Technischen Hochschule Ostwestfalen-Lippe. Die Teststände wurden nach den Bauweisen konstruiert, die am erfolgversprechendsten für das Modellvorhaben in Mannheim waren: Eine Kombination aus boden- und wandgebundener Begrünung. Im Modellvorhaben wurde ein Pflanzgefäß mit freier Wasserebene eingesetzt, um eine manuelle Bewässerung und wartungsarme Pflege zu ermöglichen. Außerdem wurde die Konstruktion mit Wuchshilfen von nichtrostenden Stahlseilen ausgestattet, die eine direkte Verankerung der Pflanzen an der Holzkonstruktion verhindern. Die Pflanzen müssen anlassbezogen zurückgeschnitten werden.
Die Teststände wurden unter unterschiedlichen Witterungsbedingungen und mit Messungen zur Solareinstrahlung, Temperatur und Feuchtigkeit begleitet. Die Ergebnisse der Simulationen wurden validiert und geeignete Begrünungsformen bestimmt. Die Pflanzen wurden auf ihre Belastbarkeit hin getestet. Bei gleichen Wasser- und Nährstoffbedingungen entwickelten sich einige Pflanzenarten gut, bei anderen gab es Ausfälle, insbesondere unter den verschärften Klimabedingungen des Sommers 2022. Auf dieser Grundlage wurde eine Empfehlungsliste einsetzbarer Pflanzen erstellt, aus denen eine Auswahl getroffen werden kann. Die Versorgungs- und Instandhaltungsanforderungen sowie die technische Detaillierung wurden konkretisiert. Die Ausschreibung für das „WohnWerk“ konnte beginnen.
Ein Nutzungskonflikt: Freie Sichtachsen vs. Verschattung
Die enge Abstimmung mit der Bauherrin und die partizipative Planung ergaben eine wichtige Erkenntnis: Fassadenbegrünung kann je nach Anwendungsfall zu Nutzungskonflikten führen. Sie entstehen, wenn die wachsenden Pflanzen die Sicht durch Fenster, Terrassentüren oder generell in der Architektur angelegte Sichtachsen behindern. Die Holzkonstruktion des Hauses in Mannheim stellt technische Anforderungen an die Fassadenbegrünung. Im Sommer soll eine hohe Verschattungsleistung erreicht werden, um möglichst viel Energie zu sparen. Im Winter darf der (geringe) solare Ertrag nicht gemindert werden. Die Bewohner haben jedoch das Bedürfnis nach Ausblick in die Umgebung und ausreichendem Lichteinfall in ihre Wohnungen. Die Forschenden erarbeiteten einen variablen Lösungsansatz für dieses Problem. Die Positionierung und Auswahl der Pflanzen wurden an die Ergebnisse der Untersuchung des Sonnenstands im Jahresverlauf angepasst. Hochwachsende Kletterpflanzen wurden vor Teilen der gesamten Fassade, versetzt vor den Fenstern in Richtung Süden, eingesetzt, wo die Sonne am meisten einstrahlt. Kleinere Pflanzgefäße mit entsprechenden Pflanzen wurden direkt an den Balkonen platziert, wo die unmittelbare Sonneneinstrahlung keine große Rolle spielt. Sie können von den Nutzerinnen und Nutzern auch als „kleiner Garten“ genutzt werden. Die Sicht wird nicht behindert und die Holzkonstruktion bleibt frei von Begrünung.
Anfangsidee war es, das System einerseits einfach und kostengünstig zu konstruieren und andererseits mit den Vorteilen einer automatischen Bewässerung für den Pflanzerfolg zu kombinieren. Eine weitgehend passive Technologie sollte das Wasser durch die Schwerkraft in die Pflanztröge verteilen, indem auf dem Dach ein Zwischenspeichertank installiert wird. Um die potenzielle Energie (Lageenergie) nutzen zu können, muss das Wasser auf das Dach gepumpt werden, was im Idealfall mithilfe des PV-Stroms erfolgt. Beim Modellprojekt „WohnWerk“ wurde allerdings aus Kostengründen auf eine technische Bewässerung sowie Sensorik und Steuerungstechnik verzichtet. Die Bewohnenden des „WohnWerks“ erklärten sich bereit, einen Großteil der Wartungs- und Instandhaltungsarbeiten, wie Bewässerung, Austausch und Rückschnitt der Pflanzen, selbst zu übernehmen.
Der Verzicht auf aktive Bewässerung vereinfacht das System und spart Kosten. Es ist aber unsicher, ob der Pflanzerfolg eintritt, wenn die Bewässerung den Bewohnenden überlassen wird. Nicht alle haben ausreichende Kenntnisse in der Pflanzenpflege. Im privaten Bereich ist das unproblematisch. Wenn Pflanzen jedoch eine wichtige Funktion für den Wärmeschutz des Gebäudes erfüllen, müssen sie kontinuierlich gepflegt werden. Chancen zur Aufrechterhaltung sind vorhanden, da Bewohnende ein Eigeninteresse am Pflanzenwachstum und dem resultierenden Wärmeschutz haben. Bessere Chancen für Low-Tech-Systeme werden bei gewerblichen oder öffentlichen Immobilien vermutet, wo Pflege und Unterhalt Teil der laufenden Wartungsarbeiten sind. Routinemäßige professionelle Pflege ist gewährleistet, jedoch entstehen dabei Kosten.
Die Übertragung der Pflegeverantwortung an Nutzende stellt ein gewisses Erfolgsrisiko dar. Deshalb sind von Beginn an Investitionen in die Kommunikation vorzusehen. Dies trifft insbesondere dann zu, wenn das Pflanzsystem bei einem existierenden Gebäude implementiert werden soll. Je eher die Anwenderinnen und Anwender eingebunden und an der Entscheidung für die individuelle Ausformung der Bauweise eingebunden werden, desto besser.
Der Kontext gibt den Ausschlag
Für „Low-Tech-Green“ existieren naturgemäß noch keine Langzeitdaten. „Vielleicht können wir eine Langzeitbeobachtung auf das bestehende Projekt aufsetzen“, hofft Ehling. Man kann bei der Entscheidung für ein Grünfassadensystem keine Pauschalempfehlungen aussprechen. Der örtliche Kontext, die Bereitschaft der Bewohnenden, sich zu engagieren oder auch nicht, die regionalen, klimatischen Verhältnisse: dies alles spielt eine wesentliche Rolle für den Projekterfolg. Alle diese Faktoren sollten frühzeitig in die Planung einbezogen und sorgfältig abgewogen werden.
In jedem Fall kann das „Low-Tech-Green“-System durch die flexiblen Implementierungsvoraussetzungen sowohl bei Neubauten als auch Bestandsgebäuden eingesetzt werden. Die im Verhältnis geringeren Aufwände senken die Hemmschwelle von potenziellen Nutzerinnen und Nutzern, die mit der Entscheidung für eine solche Bauweise einen aktiven Beitrag zum Klimaschutz leisten wollen.
Ehling betont, dass die im Forschungsprojekt geleistete Quantifizierung der Verschattungsleistung dafür sorgen kann, dass zukünftig die positiven Effekte der Grünfassade als Teil des Energiekonzepts für ein Gebäude berücksichtigt und beim Nachweisverfahren rechnerisch eingesetzt werden können. „Und diese positiven Effekte zahlen auf viele Bereiche des Gebäudes ein: auf die Reduktion des Energiebedarfs, den Materialschutz und die Materialökonomie, wasserwirtschaftliche und städtebauliche Aspekte sowie den Klimaschutz und natürlich das Wohlbefinden“, fasst er zusammen. Eine Grünfassade kann auch ein positives Argument für potenzielle Bewohner sein, die das Haus zum Leben erwecken. Das Engagement für „ihre“ Grünfassade kann zur Identifikation mit dem Gebäude und so zur nachhaltigen Nutzung beitragen.
Förderung und Forschungsbeteiligte
Gefördert durch das „Zukunft Bau Forschungsförderungsprogramm“ des BBSR (www.bbsr.bund.de).
Forschungsbeteiligte:
- DGJ Architektur GmbH: Hans Drexler, Dr.-Ing. Dipl. Arch. ETH M. Arch. (Dist.); Frederik Ehling, M.A. Arch.; Dr. Isabelle Drexler;
Luisa Matz, M. - Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen (HfWU): Prof. Dr.-Ing. MLA Nicole Pfoser; Kilian van Lier, M.Sc.; www.hfwu.de
- ina Planungsgesellschaft mbH, Darmstadt: Niall Fitzgerald, M.Sc.; www.ina-darmstadt.de
- GKR Hydro GmbH, München: Tobias Fürst; www.hydro-profi-line.com
Der Autor
Isabelle Drexler
Isabelle Drexler arbeitet seit 2022 bei DGJ Architektur als Pressesprecherin und Projektmanagerin. Davor war die promovierte Geisteswissenschaftlerin am Bankenstandort Frankfurt lange Jahre in der Finanzbranche tätig, unter anderem als Public Affairs Managerin und Vorstandsreferentin.