Im Gespräch mit Hendrik Tovar: Mit Bestand in die Zukunft

Im Gespräch mit Hendrik Tovar: Mit Bestand in die Zukunft

Im Gespräch mit Hendrik Tovar

Mit Bestand in die Zukunft

Text: Julia Ciriacy-Wantrup | Foto (Header): © MAINFELD FFM

Porträt: (v.l.n.r.): Arno Rothacker, Cilia Tovar, Hendrik Tovar

Porträt: (v.l.n.r.): Arno Rothacker, Cilia Tovar, Hendrik Tovar
Foto: FFM-ARCHITEKTEN

Die Wohnanlage „Hessenring“ in Rüsselsheim zeigt modellhaft für viele Wohnsiedlungen im Rhein-Main-Gebiet, wie durch Aufstockungen und Anbauten in Holzbauweise sowohl der bestehende Wohn- als auch wertvoller Baumbestand erhalten werden können. Nun wurde das Frankfurter Architekturbüro FFM-ARCHITEKTEN für seine Planung mit dem 4. Hessischen Preis für Innovation und Gemeinsinn im Wohnungsbau ausgezeichnet. Wir sprechen mit Hendrik Tovar, Partner bei FFM-ARCHITEKTEN, über kreative Wege, mit den Herausforderungen des Bestands umzugehen.

Auszug aus:

Herr Tovar, welche Ausgangssituation haben Sie bei der Wohnanlage „Hessenring“ vorgefunden?

Die Wohnanlage am Hessenring besteht aus vier typisierten, dreigeschossigen Mehrfamilienhäusern der 1960er-Jahre, die zeilenförmig zum Hessenring ausgerichtet sind. Jedes Gebäude besteht aus drei abgeschlossenen Häusern, welche als Zweispänner organisiert sind. Zusätzlich befindet sich ein Hochhaus auf dem Grundstück, welches in die Freianlagen eingebunden, jedoch selbst nicht Teil der Maßnahme ist. Die Anlage umfasst eine großzügige, aber wenig genutzte und in die Jahre gekommene Grünfläche mit altem Baumbestand und oberirdischen Parkplätzen. Mittels einer Vorstudie wurden Modernisierungs- und Nachverdichtungspotenziale für das Quartier aufgezeigt.

Welche Projektziele standen im Zentrum Ihrer Planungen?

Mit einem neuen Bebauungsplan für dieses und ein angrenzendes Quartier mit Sozialeinrichtungen ermöglichen die Stadt Rüsselsheim und die Gewobau auf dem Grundstück ein zukunftsfähiges, lebendiges Wohnquartier. In Bezug auf die Innenentwicklung war ein Ziel, vorhandene Flächen zu nutzen und zusätzlichen Wohnraum durch Nachverdichtung und Aufstockung zu schaffen. So entstehen 52 zusätzliche Wohnungen durch Nachverdichtung mit dem „Satelliten“ zwischen den Zeilen und Aufstockungen des Bestands. Darüber hinaus werden 72 Bestandswohnungen vollsaniert. Ein weiteres Ziel war es, ein Quartier für alle Lebensphasen zu entwickeln, das ein zukunftsfähiges und soziales Wohnumfeld mit gemeinschaftlich nutzbaren Flächen bietet. Alle neuen Wohnungen sowie Teile des Bestands sollten barrierefrei oder rollstuhlgerecht gestaltet werden. Der Erhalt des Baumbestands war auch sehr wichtig. Daher haben wir die Neubauten und Erschließungen gezielt zwischen den bestehenden Bäumen platziert. Was das Thema Nachhaltigkeit angeht, wird durch den Erhalt der Bestandsgebäude graue Energie genutzt und der Neubau bzw. die Aufstockungen aus nachwachsenden Rohstoffen konzipiert. Die Energieversorgung setzt auf erneuerbare Energien.

Die Visualisierung ermöglicht einen Blick auf den Satelliten von Haus 28A.
Bild: MAINFELD FFM

Die Aufstockung wird durch den Laubengang erschlossen.
Bild: FFM-ARCHITEKTEN

Wie haben Sie die Vorgabe nach barrierefreien Wohnungen umgesetzt und welche Hürden gab es dabei zu überwinden?

Aufgrund der Hochparterre-Lage der Erdgeschosse ist eine barrierefreie Erschließung der Bestandsgebäude nicht möglich. Daher konnten wir die barrierefreie Umgestaltung des Altbestands und der Aufstockungen aufgrund der Gegebenheiten nicht ohne weitere Maßnahmen umsetzen. Es entstand die Idee, pro Zeile eine neue, freistehende Treppenanlage mit einem Aufzug zu schaffen, die es erlaubt, jeweils ein Haus der Bestandszeile, die gesamte Aufstockung und einen Neubau zwischen den Zeilen barrierefrei zu erschließen. Um dies wirtschaftlich umzusetzen, sind mittels Laubengangerschließung und Stegverbindung jeweils 16 Wohnungen mit einem Aufzug verbunden. Herausfordernd war es, die Neubauten und den Bestand sowohl in der Höhenlage, als auch im Grundriss barrierefrei miteinander zu verknüpfen. Dazu war ein exaktes Aufmaß – auch während der Arbeiten – des Bestands und der Bäume zwingend erforderlich. Um eine wirtschaftliche, typisierte Gestaltung der Satelliten zu ermöglichen, haben wir zwei Erschließungstypen der Stege – gerade und schräg – entwickelt, um bestmöglich auf die örtliche Situation reagieren zu können.

Alle Wohnungsdecken sind als sichtbar bleibende Holzkonstruktion ausgeführt, hier im Bild die Galerie der Aufstockung.
Bild: FFM-ARCHITEKTEN

Bestand vor und nach der Sanierung – Bauabschnitt 1.
Bild: STIPE BRAUN I MAINFILM

Für Aufstockungen bringt der Baustoff Holz aufgrund statischer Belange und der Nutzungsmöglichkeit vorgefertigter Teile große Vorteile mit sich. Welche Gründe führten dazu, auch die Anbauten in Holzbauweise vorzusehen?

Die Entscheidung, die Anbauten ebenfalls in Holzbauweise auszuführen, hat mehrere Gründe: Zum einen stand nur ein relativ schmales Baufeld zur Verfügung. Die schlanken, hochwärmegedämmten Außenwände sind ca. 30 cm dick. Das ermöglicht eine optimale Raumausnutzung und erfüllt zugleich die hohen energetischen Standards des KfW 55. Zudem konnte durch die präzise Platzierung der Holzbauelemente, montiert mit Mobilkränen außerhalb des Baufelds, der wertvolle Baumbestand geschützt werden. Die serielle Vorfertigung der Holzbauten verkürzt die Bauzeit und minimiert die Lärmbelästigung für die Bewohner des Bestands. Zudem prägt die sicht- und spürbare Materialqualität des Holzes in den Innen- und Außenräumen das gesamte Quartier. Alle Wohnungsdecken auch in den Satelliten sind als sichtbar bleibende Holzkonstruktion ausgeführt. Durch die Holzkonstruktion der Fassaden entsteht im Zusammenspiel mit den verputzten Bestandsbauten eine warme, wohnliche Qualität. Die Synergieeffekte sind weitere Vorteile, denn die Aufstockungen mussten aus statischen Gründen aus Holz hergestellt werden. Nicht zuletzt leistet die Verwendung von nachwachsenden Rohstoffen auch einen positiven Beitrag zum Klimaschutz.

Wie haben Sie die Forderungen nach einem zweiten Rettungsweg für die aufgestockte Ebene erfüllt?

Die Platzierung der Neubauten zwischen den bestehenden Bäumen ermöglichte es, ohne zusätzliche Feuerwehrzufahrten auszukommen. Die dreigeschossigen Bestandsgebäude und Satelliten (OKFF< 7 m) können durch die Feuerwehr mit der Handleiter erreicht werden. Für die Aufstockungen im 3. Obergeschoss konnte mittels Laubengangerschließung auf eine Rettung durch Hubrettungsfahrzeuge der Feuerwehr verzichtet werden, da jeweils ein Bestandstreppenhaus und die neue außen liegende Treppe an den Laubengang angeschlossen sind. Somit stehen im 3. OG immer zwei bauliche Rettungswege, ohne Neubau von zusätzlichen Fluchttreppen, zur Verfügung. Dies erhöht die Sicherheit der Bewohner und spart gleichzeitig wertvolle Grünflächen. Besonders innovativ ist die Erschließung aus barrierefreien Laubengängen und offenen Stegen, die nicht nur die Nutzung von Dachflächen ermöglicht, sondern auch eine gemeinschaftsstiftende Identität schafft.

Sie haben den hohen Stellenwert des vorhandenen Baumbestands schon angesprochen. Welche Aspekte kamen diesbezüglich bei Ihren Planungen besonders zum Tragen?

Der 60 Jahre alte Baumbestand aus meist heimischen Laubbäumen ist extrem wertvoll für das Mikroklima und spielt eine große Rolle für den sommerlichen Wärmeschutz. Aber auch atmosphärisch wird das Quartier durch den Baumbestand positiv geprägt. Daher wurde durch die Anordnung und Konstruktion der Anbauten großen Wert auf den Erhalt der Bäume gelegt. Nicht alle Bäume können erhalten werden. Aber auch eine moderate Verjüngung des Baumbestands durch gezielte Nachpflanzung trägt dazu bei, eine bessere Nutzung der Freianlagen zu ermöglichen und auch für die Zukunft ökologische Ausgleichsflächen zu schaffen. Ein weiterer wichtiger Aspekt war die flächensparende Planung: Durch die Nutzung bestehender Erschließungen für Neubauten und Bestandsbauten sowie die Integration von zwei baulichen Rettungswegen konnte auf eine Feuerwehrzufahrt in den Freianlagen verzichtet werden, wodurch wertvolle Grünflächen bewahrt blieben.

Wie ist der aktuelle Stand im Projekt und welche weiteren Schritte stehen an?

Das Bauvorhaben ist in zwei Bauabschnitte unterteilt. Im ersten Bauabschnitt, der im August fertiggestellt wurde, wurden zunächst zwei Gebäude saniert und in Holzbauweise aufgestockt. Bereits während der Bauphase fand ein interner Umzug innerhalb des Quartiers statt. Insgesamt wurden 24 Wohnungen fertiggestellt, die anschließend von den Bewohnern des zweiten Bauabschnitts bezogen wurden. Das Projekt befindet sich aktuell im zweiten Bauabschnitt. Die Modernisierungsarbeiten sind abgeschlossen und weitere 24 Wohnungen in den Bestandsgebäuden sind bezogen. Die Aufstockungen stehen kurz vor der Fertigstellung. Bei zwei der fünf Satelliten ist die Fassadengestaltung abgeschlossen und die Stegmontage erfolgt. Der fünfte Satellit befindet sich derzeit im Holzrohbau. Parallel dazu haben die Arbeiten an den Freianlagen des Gesamtprojekts begonnen. Die Fertigstellung der Anlage ist im Herbst 2025 geplant.

Inwiefern können Ihre Planungen als Blaupause für vergleichbare Areale dienen?

In den 1960er-Jahren – während des stärksten Bevölkerungswachstums – entstanden im gesamten Rhein-Main-Gebiet und darüber hinaus zahlreiche serielle Gebäude ähnlicher Bauart. Diese soliden Mauerwerksbauten im Zweispänner-Prinzip bieten gut durchlüftete und funktional nutzbare Wohnungen. Mit den einzelnen Elementen des Entwurfs entsteht ein „Baukasten“, welcher auch – ggf. mit Modifikation seiner Bausteine – auf andere Wohnsiedlungen übertragen werden kann. Dieses Projekt zeigt mit diesem Baukasten modellhaft, dass es möglich ist, den bestehenden Wohnraum weitgehend zu erhalten, ihn an heutige Standards anzupassen und durch Aufstockung sowie Ergänzungen um mehr als 40 % an barrierefreien Wohnungen zu erweitern. Dank der Systembauweise kann zudem flexibel auf den häufig wertvollen vorhandenen Baumbestand eingegangen werden.

Das Gespräch führte Julia Ciriacy-Wantrup.

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