Titelthema
Circular economy: Stoffströme im urbanen Wohnungsbau
Text: Matthias Heinrich | Foto (Header): © Pedrosala – stock.adobe.com
Um Baustoffe im Bauwesen im Sinne des Recyclings wieder einsetzen zu können, bedarf es des Wissens um die genaue Zusammensetzung, Mengen und derzeitigen Standorte der gebundenen Stoffe. An der Technischen Universität München wurde dies in einer Arbeit untersucht.
Auszug aus:
QUARTIER
Ausgabe 5.2020
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Das Bauwesen ist einer der ressourcenintensivsten Wirtschaftssektoren. Weltweit wird rund die Hälfte aller Rohstoffe in diesem Bereich verwendet und ein Viertel der CO²-Emissionen ausgestoßen [1]. In Deutschland werden pro Jahr – neben einer Vielzahl an unterschiedlichsten Rohstoffen – mehr als eine halbe Milliarde Tonnen mineralische Rohstoffe für Bautätigkeiten eingesetzt [2]. Im anwachsenden Gebäudebestand haben sich allein in Deutschland inzwischen 15 – 16 Mrd. Tonnen Baustoffe angesammelt. Unter Berücksichtigung des Tiefbaus (z. B. Straßen) ist ein Rohstofflager von fast 29 Mrd. Tonnen (355 t/Person) entstanden [3].
Die genaue Zusammensetzung, Mengen und derzeitigen Standorte der gebundenen Stoffe sind nicht ausreichend bekannt. Nur zu einem vergleichsweise geringen Anteil wurden die durch Bautätigkeiten ausgelösten Stoffströme und -lager bisher räumlich erfasst. Um die Dynamik und das Verhalten von Systemen wie z. B. urbanen Räumen, Gebäuden und Bauteilen besser zu verstehen und zu optimieren ist es unerlässlich, die derzeitigen Stoffströme und -lager zu erfassen und Stellschrauben für eine gezielte Steuerung zu identifizieren (gezieltes Stoffstrommanagement). Diese Informationen bieten die Basis für die Etablierung einer geschlossenen Kreislaufwirtschaft (zirkuläre Ökonomie), das Sicherstellen der Versorgungssicherheit von Roh- und Baustoffen sowie weiteren Anwendungsbereichen.
Eine systematische und integrale Bewirtschaftung des entstandenen Rohstofflagers mit dem Ziel, aus langlebigen Produkten wie Gebäuden Sekundärrohstoffe zu gewinnen, wird als Urban Mining bezeichnet. Übersetzt bedeutet das „Stadtschürfung oder Bergbau im urbanen Raum“. Dabei kommt es darauf an, möglichst früh, idealerweise vor Inverkehrbringen eines Produkts, Stoffströme zu prognostizieren und zukünftige Verwertungswege zu identifizieren [4][5].
Durch die Vielzahl der im Bauwesen verwendeten Stoffe, die in gegenseitiger Abhängigkeit stehen, ist eine Erfassung der Stoffströme und -lager ein aufwendiges und interdisziplinäres Unterfangen. Daher wurde der Fokus der nachfolgend beschriebenen Untersuchung bewusst auf den urbanen Wohnungsbau gelegt, dessen Bereitstellung bzw. Bedarfsdeckung insbesondere für wachsende Regionen und Metropolregionen wie z. B. München eine zunehmende Herausforderung darstellt. Im Rahmen der Arbeit wurde daher eine Methode zur Erfassung der Stoffströme und -lager des Wohnungsbaus in urbanen Räumen in allen Phasen der Wertschöpfungskette entwickelt. Es handelt sich dabei um ein integrales Stoffstrommodell für Wohngebäude, das anhand des Fallbeispiels des stark wachsenden Münchner Stadtteils Freiham erprobt wurde (siehe Abb. links).
Erfassung von gebäudespezifischen Baustoffströmen
Zur Ermittlung von Stoffströmen und -lagern auf der Gebäudeebene wurden stoffspezifische und geometrische Gebäude‑, Bauteil- und Baustoffkennwerte wie Materialintensität (z. B. kg/m³BRI oder kg/m²BGF) untersucht und gebildet. Dabei wurde die stoffliche Zusammensetzung von Wohngebäuden unterschiedlicher Baualtersklassen und Typen über den gesamten Lebenszyklus untersucht. Die entwickelten Kennwerte wurden mit geometrischen Gebäudedaten aus 3-D-Stadtmodellen verknüpft. Diese Werte dienen als Datenbasis für das hier entwickelte Rohstoffkataster für Wohngebäude (siehe Abb. oben).
In weiteren Modellmodulen wurde die stoffliche Veränderung des Wohngebäudebestands im Laufe des Lebenszyklus, also dynamische Prozesse wie z. B. Sanierung, Neubau der Abbruch, aufgezeigt und quantifiziert (siehe Abb. S. 8). Dadurch konnten Aussagen zum zeitlichen und örtlichen Auftreten von aus dem Bestand freigesetzten Stoffen (z. B. potenzielle Sekundärrohstoffe, Verlustraten, Abfälle, Selbstversorgungsgrad etc.) gemacht werden. Die zeitliche Freisetzung wurde anhand von Verteilungsfunktionen ermittelt, die auf den Nutzungs- und Lebensdauern von Wohngebäuden und deren Bauteilen basieren. Durch die Verwendung von 3-D-Stadtmodellen konnte die örtliche Freisetzung von Stoffen ermittelt werden. Bei der Auswertung auf der Gebäudeebene hat sich gezeigt, dass im Vergleich zu mineralischen Baustoffen, die bei Wohngebäuden überwiegend in der Konstruktion gebunden sind und den größten Anteil (nach Masse) ausmachen, zwischen 0,1 bis 25 % Metalle vorhanden sind. Mit durchschnittlich 92 % ist Stahl (z. B. Bewehrung) das meistverwendete Metall im Wohnungsbau.
Der Fokus bisheriger Untersuchungen zur stofflichen Zusammensetzung von Gebäuden liegt überwiegend auf der Konstruktion. Da insbesondere in der Anlagentechnik eine Vielzahl an Metallen gebunden ist, die eine strategische Bedeutung für die Wirtschaft haben und ein hohes Potenzial der Ressourcenschonung aufweisen, ist es zukünftig nötig, insbesondere deren materielle Zusammensetzung genauer zu untersuchen.
Im Rahmen dieser Arbeit wurden daher auch einzelne Wohngebäude gezielt untersucht, um die bestehende Datenbasis bezüglich der stofflichen Zusammensetzung zu erweitern, z. B. durch Bildung von Kennwerten, Ermittlung von Leitungslängen etc. Es hat sich beispielsweise gezeigt, dass bei einem der betrachteten Mehrfamilienhäuser rund 280 g/m²BGF Kupfer in den elektrischen Leitungen verbaut ist (ca. 230 g/m²BGF bei den untersuchten Einfamilienhäusern). Durch die gehobenen Nutzeransprüche und Zunahme an elektrischen Geräten wird heute 15-mal mehr Kupfer für diesen Zweck benötigt als noch vor 50 Jahren.
Validierung anhand des Fallbeispiels München-Freiham
Zur Validierung des entwickelten Stoffstrommodells wurde der Münchner Stadtteil Freiham gewählt – eines der größten Stadtentwicklungsprojekte in Deutschland. Hierbei wurde für Freiham die stoffliche Zusammensetzung des Wohngebäudebestands nach Baustoffgruppen ermittelt. Insgesamt umfasst der Bestand ca. 2.400 Gebäude und beträgt rund 2,2 Mio. Tonnen. Rund 50 % der Gesamtmasse sind in Mehrfamilienhäusern der Baualtersklassen 1958 – 1968 (31 %) und 1969 – 1978 (19 %) gebunden. Mit 48 % haben Betone den größten Anteil, gefolgt von Mauersteinen (24 %). Der Anteil der Metalle beträgt rund 5 % (110.000 t), mit einem monetären Gegenwert von rund 20,4 Mio. Euro. Alleine das derzeit gebundene Kupfer in den elektrischen Leitungen (419 t) hat einen derzeitigen Gegenwert von ca. 1,8 Mio. Euro. Auf Basis der stofflichen Ist-Zustandsermittlung bzw. des Rohstoffkatasters für Wohngebäude wurden in weiteren Schritten die zukünftigen Stoffströme und deren Dynamik (z. B. potenzielle Sekundärrohstoffe, Baustellenabfälle, Rohstoffbedarf für Neubauten, Selbstversorgungsgrad etc.) bis 2050 erfasst (siehe Abb. unten rechts). Dadurch konnten Aussagen zum zeitlichen Auftreten und Bedarf an Stoffen im Untersuchungsraum Freiham gemacht werden. Des Weiteren konnte abgeleitet werden, welcher Anteil aus Abbruchmassen unter Berücksichtigung von Systemverlusten für den Neu- und Ersatzneubau im Untersuchungsraum verwendet werden kann Selbstversorgungsgrad urbaner Räume).
In Bezug auf das untersuchte Fallbeispiel konnten die Voraussetzungen für ausgeglichene Massenbilanzen (Selbstversorgungsgrad) am Beispiel von Beton und Stahl aufgezeigt werden. Unter den gewählten Voraussetzungen der Bestandsdynamik kann beispielsweise eine autarke Versorgung mit Recycling-Splitt für die Produktion von RC-Beton und Stahlschrott für die Stahlproduktion im Untersuchungsraum sichergestellt werden. Bei tendenzieller Entwicklung kann ab ca. 2036 ein Überschuss bereitgestellt werden, und der Stadtteil wird zum Nettostoffexporteur. Dies ist maßgeblich auf die prädominierende Baualtersklasse der „1960er-Jahre Mehrfamilienhäuser“ zurückzuführen, die durch ihre Bauweise ein bedeutendes Lager an Stahl und Beton bieten.
Neben der Massenermittlung und zeitlichen Veränderung des Rohstofflagers des Wohngebäudebestands wurden potenzielle Verwertungswege und Transportdistanzen identifiziert. Dabei wurden die für die „Wertschöpfungskette Bau“ relevanten Anlagen kartographiert und in Bezug zum Untersuchungsraum gesetzt. Bedingt durch den regionalen und lokalen Markt für mineralische Massenbaustoffe ist im Hinblick auf die Ressourcenschonung, eine möglichst hochwertige Verwertung vor Ort von besonderem Interesse.
Anhand der Auswertung wurde festgestellt, dass durch das Wissen zum Verbleib von Stoffen ein gezielter Einsatz von Sekundärrohstoffen aus dem Bestand forciert werden kann. Dies ist für die Etablierung von geschlossenen Kreisläufen im Bauwesen von entscheidender Bedeutung. Durch eine lokale Aufbereitung und Verwertung innerhalb des gewählten Bezugsraums reduzieren sich auch die Transportwege, da die derzeitigen Anlagen wie z. B. Primärrohstoffstätten oder Recyclinganlagen außerhalb der Stadtgrenzen liegen. Ein gezieltes Stoffstrommanagement (z. B. hochwertige Verwertung vor Ort) in urbanen Räumen weist daher ein hohes Potenzial auf, den Anteil sekundärer Ressourcen zu erhöhen und den primärer Ressourcen und Transporte zu verringern.
Handlungsempfehlungen an die Bauakteure
Im Rahmen der Analyse und daraus abzuleitenden Handlungsempfehlungen wurden unter den gegebenen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen die Einflussmöglichkeiten ausgewählter Akteure auf die Stoffströme des Bauwesens untersucht. Für die Schaffung einer zirkulären Ökonomie und eines gezielten Stoffstrommanagements wird ein gemeinsamer Datenraum benötigt, um Stoffströme, -lager und deren Entwicklung fortlaufend zu dokumentieren. Dadurch können diese Ströme gezielt gesteuert und bewirtschaftet werden (z. B. Abgleichen von Angebot und Nachfrage nach Baustoffen).
Durch die Einführung von Materialausweisen wie z. B. Building Circularity Passport (siehe Abb. oben) können in Gebäuden verbaute Materialien und Produkte bereits heute standardisiert dokumentiert werden. Diese Daten bilden die Basis, um bei einem späteren Rückbau hochwertige Verwertungsstrategien zu Identifizieren und ein zukünftiges Urban Mining zu gewährleisten. Analog zum Energieausweis werden diese Dokumente in Zukunft eine immer wichtigere Rolle spielen.
Das innovative Tool Building Circularity Passport wurde von den Experten der EPEA GmbH und BIM-Spezialisten von Drees & Sommer entwickelt und wird bereits erfolgreich bei Bauvorhaben eingesetzt. Dabei dient er nicht nur als Dokumentationstool, sondern ebenfalls als Optimierungswerkzeug in der Planung. Auf diese Weise können bereits während der Gebäudeplanung Parameter wie Trennbarkeit, Rezyklierbarkeit, Rückbaubarkeit und Schadstoffgehalte von einzelnen Bauteilen und Schichten hinsichtlich einer Circular Economy optimiert werden.
Bei dem Cradle to Cradle®-(C2C-)inspirierten RAG Gebäude in Essen (Abb. oben) oder dem Rathaus in Venlo wurde dieses Werkzeug, auch im Rahmen des EU-Projekts Building as Material Banks, weiterentwickelt und für die Praxis anwendbar gemacht. Aktuell setzt das Planungs- und Beratungsunternehmen Drees & Sommer gemeinsam mit Experten der EPEA GmbH den Building Circularity Passport auch beim Holzhybridgebäude „The Cradle“ in Düsseldorf und bei seinem eigenen Büroneubau OWP 12 in Stuttgart ein. Ihr Ziel dabei: Gebäude zu langfristigen Rohstoffdepots zu gestalten, die nach ihrer Nutzung einen Mehrwert bieten und keine Last für zukünftige Generationen sind.
Kreislauffähig bedeutet zukunftsfähig
Für die Umsetzung einer Circular Economy sind alle Akteure angehalten, relevante Informationen wie z. B. Zusammensetzung von Gebäuden an andere Akteure der Wertschöpfungskette weiterzugeben und den Informationsaustausch untereinander zu forcieren. Nur so lässt sich auch ein zukünftiges Urban Mining gestalten. Es werden akteursübergreifende Geschäftsmodelle benötigt, um einen wirtschaftlichen Anreiz zur Ressourcenschonung zu liefern und damit eine Umsetzung der zirkulären Ökonomie in der Praxis zu gewährleisten.
Vor diesem Hintergrund wird künftig auch eine neue Kompetenz in der Planung von Immobilien notwendig sein – und zwar ein Material-Fachplaner bzw. ein Circular Engineer, der sich mit der chemischen Zusammensetzung und der stofflichen Beschaffenheit und Trennbarkeit von Bauprodukten auskennt und gleichzeitig planerische Kompetenzen vorweisen kann. Sofern ein Circular Engineer zu Planungsbeginn in das Planungsteam integriert wird, ist auch eine Wirtschaftlichkeit gegeben. Denn gesunde Gebäude mit trennbaren und rezyklierbaren Materialien und Konstruktionen können heute schon einen monetären Mehrwert als Rohstoffdepots aufweisen. Das bietet den Bauherren, Projektentwicklern und Produktherstellern einen zusätzlichen Anreiz, um verstärkt kreislauffähige und schadstofffreie Immobilien umzusetzen. Viel wichtiger als das ist jedoch der Fakt, dass kreislauffähig zu sein auch zukunftsfähig zu sein bedeutet. Verordnungen und Beschlüsse wie der EU-Green Deal [6] und die EU-Taxonomie [7] bestätigen das und zeigen, wie wichtig die Kreislaufwirtschaft für eine nachhaltige und lebenswerte Zukunft ist. Daher steht fest: Will die Bau- und Immobilienbranche zukunftsfähig bleiben und einen wirklich spürbaren Beitrag zum Klimaschutz und zur Ressourcenschonung leisten, führt kein Weg an der Circular Economy vorbei.
Quellen
[1] Becqué, Renilde; Mackres, Eric; Layke, Jennifer; Adam, Nate; Liu, Sifan; Managan, Katrina et al. (2016): Accelerating Building Efficiency. Eight Actions for Urban Leaders. Hg. v. World Resources Institut (WRI). Washington, DC.
[2] BBS (2016): Die Nachfrage nach Primär- und Sekundärrohstoffen der Steine-und-Erden-Industrie bis 2035 in Deutschland. Hg. v. Bundesverband Baustoffe – Steine und Erden e. V. Berlin.
[3] Schiller, Georg; Ortlepp, Regine; Krauß, Norbert; Steger, Sören; Schütz, Helmut; Acosta Férnandez, Jose et al. (2015): Kartierung des anthropogenen Lagers in Deutschland zur Optimierung der Sekundärrohstoffwirtschaft. Hg. v. Umweltbundesamt.
[4] Müller, Felix; Lehmann, Christian; Kosmol, Jan; Keßler; Hermann; Bolland, Til (2017): Urban Mining. Ressourcenschonung im Anthropozän. Hg. v. Umweltbundesamt.
[5] Brunn, Michael (2017): Lebensraum als Rohstoffquelle. In: Recycling Magazin 2017 (18), S. 25 – 27.
[6] European Commission (2020): Changing how we produce and consume: New Circular Economy Action Plan shows the way to a climate-neutral, competitive economy of empowered consumers. In: ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/ip_20_420; abgerufen am 24.07.2020
[7] European Commission (2020): Sustainable finance: TEG final report on the EU taxonomy. In: ec.europa.eu/knowledge4policy/publication/sustainable-financeteg-final-report-eu-taxonomy_en; abgerufen am 24.07.2020
Der Autor
Dr.-Ing. Matthias Heinrich
Matthias Heinrich ist Teamleiter bei der EPEA GmbH – Part of Drees & Sommer am Standort in München. Seit fast 20 Jahren beschäftigt er sich mit dem Thema Nachhaltigkeit und Circular Economy in der Immobilienbranche. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Nachhaltiges Bauen an der Technischen Universität München und hat zum Thema Stoffstrommanagement und Urban Mining im Bauwesen promoviert. Neben der Projektleitung des EU Forschungsprojekts Buildings as Material Banks (BAMB) hat er u. a. an der Entwicklung und Umsetzung von Zertifizierungssystemen für nachhaltige Immobilien gearbeitet. Bis 2019 war er Mitglied im DIN Normenausschuss für Nachhaltiges Bauen und am Runden Tisch Ressourceneffizienz im Bauwesen.
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