Thermische Bauteilaktivierung: Potenzial für den Wohnungsbau

Thermische Bauteilaktivierung: Potenzial für den Wohnungsbau

Energie, Technik & Baustoffe

Thermische Bauteilaktivierung: Potenzial für den Wohnungsbau

Text: Sebastian Spaun | Foto (Header): © Calado – stock.adobe.com

In Büro- und Dienstleistungsgebäuden wird die thermische Bauteiloder Betonkernaktivierung seit Jahrzehnten zum „Wegkühlen“ innerer Wärmequellen wie Computer oder Beleuchtung erfolgreich angewendet. Ob das Kühlen und Heizen von Räumen nur mit der Betondecke auch im Wohnbereich möglich ist, wollte die Vereinigung der Österreichischen Zementindustrie wissen. Dazu wurde vor knapp zehn Jahren ein Forschungs- und Entwicklungsprogramm in die Wege geleitet.

Auszug aus:

Von Anfang an wurde ein starker Fokus auf die praktische Umsetzung gelegt. So begann das Forschungsprogramm mit der Suche nach Pionieren wie dem Energieplaner Harald Kuster, der bereits gezeigt hatte, dass das Konzept der Betonkernaktivierung auch im Wohnungsbau funktioniert. Diese praktischen Erfahrungen wurden mit der Wissenschaft verknüpft. Testräume mit umfassender Messtechnik wurden errichtet und Fragen zu Bauphysik, Planung und Design, Gebäudetechnologie und -ausstattung diskutiert sowie Überlegungen zu Kontroll- und Messvorrichtungen, Komfortparametern  und Zeiten für Vorheizen und -kühlen angestellt.

Heizen mit Beton

Beton lassen sich auch Umweltenergien wie Wind und Sonne oder Erdwärme hervorragend nutzen. Die erneuerbaren Energien haben jedoch den Nachteil, dass sie fluktuierend zur Verfügung stehen und oft auch antizyklisch zum Bedarf. Im Winter ist die Sonneneinstrahlung deutlich reduziert und kann bei Nebel gänzlich ausbleiben, wie es auch windstille Tage gibt. Genau hier schafft das System der Betonkernaktivierung Abhilfe. Das Prinzip ist einfach: Wenn Sonnenenergie oder etwa überschüssige Windenergie verfügbar ist, wird diese durch Solarthermie oder mithilfe einer Wärmepumpe in den Betondecken eingelagert und diese dabei um 2 bis 3 °C erwärmt. Erst wenn zu einem späteren Zeitpunkt die Temperatur im Raum zu sinken beginnt, gibt die Decke die Energie an den Raum gleichmäßig ab. Das System funktioniert selbstregulierend. Die Raumtemperatur kann somit über viele Stunden, beisehr gut gedämmten Häusern sogar Tage, im Komfortbereich gehalten werden.

Bei der Betonkernaktivierung fallen kaum höhere Baukosten im Vergleich zu herkömmlichen Heiz- und Kühlsystemen an. Auftretende Mehrkosten bei den Pilotprojekten entstehen hauptsächlich durch erhöhte Koordination, Abstimmung und Planungsaufwände.

Über die Decke heizen und kühlen

Oft hört man das Argument, dass die Wärme im Raum aufsteigt und ein Heizen mithilfe der Decke daher nicht sinnvoll ist. Die Folgerung ist aber nur schlüssig, wenn mit erwärmter Luft geheizt wird. Kalte Luft sinkt aufgrund der Schwerkraft ab, warme Luft steigt auf. Die Betonkernaktivierung funktioniert jedoch nicht wie bei klassischen Heizkörpern mittels Lufterwärmung, sondern – aufgrund der geringen Temperaturunterschiede zwischen beheizter Decke und Raum – fast ausschließlich mittels Wärmestrahlung. Die Schwerkraft spielt dabei keine Rolle. Die Decke strahlt überallhin Wärme ab, und das aufgrund ihrer großen Fläche gleichmäßig über den Raum verteilt. Im Sinne des maximalen Wohnkomforts ist zu beachten, dass zwischen Oberflächen- und Raumtemperatur maximal 4 °C (4 Kelvin) auftreten. Das bedeutet, dass im Heizfall maximal 30 W/m² und im Kühlfall maximal 40 W/m² zur Verfügung stehen. Diese relativ geringen Heiz- und Kühllasten setzen eine gute Planung und Ausführung der Gebäude hinsichtlich Dämmung und Dichtheit voraus, wie sie künftig auch die europäische Gebäuderichtlinie vorgibt. Zur Minderung von Lüftungsverlusten ist zudem eine kontrollierte Wohnraumlüftung empfehlenswert, wenngleich nicht unbedingt erforderlich.

Betonkernaktivierung – ein Beitrag zum Klimaschutz

Grob ein Drittel des europäischen Energiebedarfs wird für das Heizen und Kühlen von Gebäuden aufgewendet. Der Anteil der erneuerbaren Energien ist immer noch sehr gering und steigt aufgrund des zuvor erwähnten Problems der schwankenden Verfügbarkeit nur sehr langsam. Um den Anteil erneuerbarer Energien weiter zu steigern, braucht es funktionierende, langlebige und kostengünstige Speichermöglichkeiten. Die thermische Aktivierung von Bauteilen aus Beton erfüllt diese zukünftigen Ansprüche schon heute perfekt und trägt wesentlich zur Erreichung nationaler und internationaler Klima- und Energieziele bei.

Beim derzeitigen Neubauvolumen werden pro Jahr in Österreich etwa 4 Mio. m² Betondecken hergestellt. Würden in den nächsten zehn Jahren 10 Mio. m² Betondecken thermisch aktiviert, so könnte damit eine Speicherkapazität genutzt werden, mit der ein signifikanter Beitrag zum Ausgleich der Netzschwankungen der Stromerzeugung geleistet werden kann. Um die Betonkernaktivierung in Verbindung mit Windenergie im kleineren Rahmen zu testen, wurde ein Demonstrationsprojekt eines Einfamilienhauses im Weinviertel imnördlichen Niederösterreich für Forschungszwecke errichtet. Ziel war es, das System mit all seinen Vorteilen im sozialen Wohnbau zu etablieren.

Funktionales Modell der Betonkernaktivierung.
GRAFIK: ZEMENT+BETON

Schnitt durch einen Musterraum mit Isothermen im Heizfall bei aktivierter Decke. Auffällig sind die gleichmäßige Temperaturverteilung und die geringen Temperaturunterschiede im Raum.
GRAFIK: ZEMENT+BETON

Schema der Verbindung von Gebäude und erneuerbarer Energie.
GRAFIK: ZEMENT+BETON

Einfamilienhaus H, Niederösterreich

Das Einfamilienhaus wurde im Jahr 2015 fertiggestellt, verfügt über eine mit Windstrom gesteuerte und versorgte Wärmepumpe und wird ausschließlich mit Betonkernaktivierung beheizt. Die Betonkernaktivierung ermöglicht den Einsatz bisher nicht genutzter Überschussenergie, in diesem Fall aus einem Windpark. Netzspitzen werden geglättet; die Festlegung auf Strom ermöglicht den Einsatz erprobter Haustechnik und somit geringe Investitionskosten sowie optimale Betriebssicherheit und Nutzerfreundlichkeit. Wärmeversorgung und Warmwasserbereitstellung erfolgen mit einer Wärmepumpe, als Wärmequelle dient ein Erdkollektor. Die Versorgung der Wärmepumpe wird durch ein Signal des Windparkbetreibers freigeschaltet („Windfreischaltung“). Die Wärmepumpe versorgt dann die Betonkernaktivierung in den Geschossdecken und einen 1.000-Liter-Schichtenspeicher für die Warmwasserbereitstellung mit Wärme, wobei die Leistung mit 6 kW zur Sicherstellung kurzer Beladungszeiten groß gewählt ist. Neben der Energieversorgung mit Windstrom standen auch die Errichtung eines unkomplizierten Heizsystems mit einfacher Steuermöglichkeit und die Wirtschaftlichkeit der Lösung im Fokus.

Das Team bestand aus einem erfahrenen Planer, einem lokalen Baumeister als Generalunternehmer, einem Windstromlieferanten und der Vereinigung der Österreichischen Zementindustrie als Koordinator. Zwei Jahre lang wurden Energieverbräuche und -gewinne gemessen und die Temperaturen im Gebäude erhoben. Die Messung der erhobenen Daten wurde vom österreichischen Forschungsprogramm „Stadt der Zukunft“ unterstützt. Die gemessenen Daten und die Bewohner stellen dem System der Betonkernaktivierung beste Noten bezüglich Wohnkomfort und Nutzung von erneuerbarer Energie aus. Nach zwei Wintern, in denen das Monitoring durchgeführt wurde, steht fest, dass 70 % (2016/17) und fast 90 % (2017/18) der Elektrizität für den Betrieb der Wärmepumpe aus CO²-freiem und überschüssigem Windstrom generiert werden konnten. Das hat sich zum einen positiv auf die Energiekosten ausgewirkt, zum anderen verdeutlichen die Ergebnisse, dass ein Gebäude mit Betonbauteilen eine aktive Rolle zur Entlastung der Stromnetze spielen kann. Mittlerweile werden bereits mehrere weitere Projekte im großvolumigen Wohnbau in Österreich errichtet, die auf die Erfolgskombination Windenergie und Betonkernaktivierung setzen.

Das Pilotprojekt Haus H setzt auf die Kombination aus Betonkernaktivierung und erneuerbaren Energien.
FOTO: ZEMENT+BETON

Projekt MGG22 – Wohnhausanlage in Wien

In der Mühlgrundgasse im 22. Wiener Gemeindebezirk errichtet der gemeinnützige Wohnbauträger Neues Leben in Kooperation mit dem Immobilienentwickler M2plus Immobilien GmbH eine Wohnhausanlage mit 155 Wohnungen. Baubeginn war im Frühjahr 2018. Die Gebäude selbst werden im Niedrigenergiehausstandard errichtet, mit einem Heizwärmebedarf von 24 – 28 kWh/m²a. Das Besondere daran: Hier wird die Betonkernaktivierung in Verbindung mit Windenergie erstmals zum Heizen und Kühlen im sozialen Wohnbau eingesetzt.

Über die Betonkernaktivierung und eine Wärmepumpe werden die Wohnungen mit Erdwärme geheizt und im Sommer auch gekühlt, die Wärmepumpe wird mit Überschuss-Windstrom mit einem Windstrom-Lastmanagement betrieben. Die Wärme für Beheizung und Warmwasser wird über Sole/Wasser-Wärmepumpen in Verbindung mit Erdwärme- Tiefensonden erzeugt, im Sommer wird passiv gekühlt und das Sondenfeld somit regeneriert. Insgesamt 30 Erdsonden werden je 150 m tief gebohrt und verbaut. Ab einer Tiefe von rund 10 bis 20 m herrscht das ganze Jahr über eine gleichmäßige Temperatur von 10 bis 12 °C. Die entzogene Erdwärme wird im Heizfall mithilfe einer Wärmepumpe auf ein höheres Temperaturniveau gebracht. Im Kühlfall wird Wärme ins Erdreich eingebracht. Diese Form der Energieversorgung hat einen hohen Nutzerkomfort und ist sehr wirtschaftlich im Betrieb. Für eine 70 – 80 m² große Wohnung sollte die Jahresrechnung für Heizung, Kühlung und Warmwasser unter 300 Euro liegen. Solche niedrigen Energiekosten unterstützen leistbares Wohnen.

Die entzogene Erdwärme wird im Heizfall mithilfe einer Wärmepumpe auf ein höheres Temperaturniveau gebracht. Im Kühlfall wird Wärme ins Erdreich eingebracht. Diese Form der Energieversorgung hat einen hohen Nutzerkomfort und ist sehr wirtschaftlich im Betrieb. Für eine 70 – 80 m² große Wohnung sollte die Jahresrechnung für Heizung, Kühlung und Warmwasser unter 300 Euro liegen. Solche niedrigen Energiekosten unterstützen leistbares Wohnen.

Eine frühzeitige Planung im Bauprozess ist für den Erfolg der Bauteilaktivierung entscheidend.
FOTO: MA 20/A. KROMUS

Das Projekt MGG22 in Wien zeigt, dass sich die Betonkernaktivierung auch für den sozialen Wohnungsbau eignet.
RENDERING: NEUES LEBEN

Im Wohnpark Sommerein entstehen 22 Wohneinheiten für betreutes Wohnen. Alle Gebäude sind mit Betonkernaktivierung ausgestattet
RENDERING AW ARCHITEKTEN

Wohnpark Wolfsbrunn, Sommerein

In Niederösterreich am Fuße des Leithagebirges werden derzeit 14 Reihenhäuser sowie ein zweigeschossiges Gebäude mit 22 Wohneinheiten für betreutes Wohnen gebaut. Baubeginn war im Juni 2018. Sämtliche Gebäude sind mit Betonkernaktivierung zum Heizen und Kühlen ausgestattet. Der Strom für die Sole/Wasser-Wärmepumpen mit Erdwärme-Tiefensonden kommt aus einem benachbarten Windpark. Die 14 Reihenhäuser haben eine Nettonutzfläche von je 142 m². Alle 22 Wohneinheiten zum Generationenwohnen werden als Zwei-Zimmer-Wohnungen ausgeführt. Fertigstellung und Bezug der Anlage sind für Herbst 2019 geplant. Hier entsteht leistbarer Wohnraum mit höchster gebauter Qualität, vor allem aber mit einer zukunftsweisenden technischen Gebäudeausrüstung, die nicht nur das Klima schont, sondern auch die  eldbörse der Mieter, da die Betriebskosten überschaubar bleiben. Das Bauvorhaben wird durch das Land Niederösterreich mit dem Projekt „Netzflexibler Wohnbau“ begleitet.

Win-win-Strategie für alle

Die Forschungsergebnisse und die aktuellen Projekte zeigen die substanziellen Vorteile der Betonkernaktivierung in Hinblick auf Wohnkomfort sowie eine umweltfreundliche und zukunftsfähige Energieversorgung. Eine gute thermische Hülle in Kombination mit Betonkernaktivierung und Wärmepumpe bietet höchste Flexibilität. Als Teil intelligenter Netze werden speicherfähige Gebäude von den ökonomischen Anreizen am Energiemarkt in Zukunft profitieren. Eine Win-win-Situation für Bewohner, die Netze und die EU-Klima- und -Energieziele. Die Technologie wird im Wohnbau bisher nur in kleinem Rahmen in Pilotprojekten angewendet, doch das sind wichtige Schritte in die richtige Richtung für die Zukunft, in der die Energieversorgung für das Heizen und Kühlen ganzer Nachbarschaften auf umweltfreundliche Art und Weise neu organisiert werden könnte. Eine Idee, so einfach wie genial.

Planungsleitfaden zur thermischen Bauteilaktivierung
Im Leitfaden zum Heizen und Kühlen mit Beton, herausgegeben vom österreichischen Ministerium für Verkehr, Innovation und Technologie, von der VÖZ und dem Forschungs- und Technologieprogramm „Stadt der Zukunft“, sind die Erkenntnisse bisheriger Forschungsprojekte zur Betonkernaktivierung zusammengefasst. Behandelt werden Fragen der Bauphysik, der Konzeption von Gebäuden, der zugehörigen Haustechnik und deren Regelung. Dazu wird anhand eines konkreten Ausführungsbeispiels die Auslegung einer thermischen Betonkernaktivierung beschrieben. Es wird gezeigt, wie Energie in massiven Bauteilen über längere Zeit gespeichert und zu beliebigen Zeitpunkten wieder abgerufen werden kann. Der Planungsleitfaden ist mit detaillierten Anleitungen auf die Bedürfnisse von Planenden und Bauausführenden sowie auf die Wissensvermittlung zur Aus- und Weiterbildung konzipiert. Das Buch gibt es als Gratisdownload unter www.zement.at/Planungsleitfaden.

Der Autor


Dipl.-Ing. Sebastian Spaun
Dipl.-Ing. Sebastian Spaun ist Geschäftsführer der Vereinigung der Österreichischen Zementindustrie (VÖZ), davor war er als Leiter der Abteilung Umwelt & Technologie tätig. Während seines Studiums „Kulturtechnik und Wasserwirtschaft“ an der Universität für Bodenkultur und an der TU Wien beschäftigte er sich mit den Themenfeldern Wasser/Abwasser, Umwelt- und Kreislaufwirtschaft. In der VÖZ engagiert er sich für die großen Themen der Zementerzeuger wie Klima‑, Energie- und Umweltpolitik.

spaun@zement.at
www.zement.at

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